Reihe: Vertebraten

Bachneunauge (Lampetra planeri (Bloch, 1784))

Namensbedeutung

Das Bachneunauge wurde von dem aus Ansbach stammenden Arzt und Naturforscher Marcus Élieser Bloch (1723-1799) beschrieben, im Rahmen seines mehrbändigen Werkes „Ökonomische Naturgeschichte der Fische Deutschlands“. Er beschrieb es noch unter dem Namen Petromyzon planeri. Der Gattungsname geht noch auf Linnæus zurück, der ihn 1758 für das Meerneunauge (Petromyzon marinus) verwendete, welches ihn noch heute trägt. Petromyzon bedeutet übersetzt „Steinsauger“, weil sich Neunaugen gerne mit ihrem Saugmund an Steinen festheften. Der von Bloch vergebene Artname ehrt einen Arztkollegen, Johann Jacob Planer (1743-1789), der als Professor in Erfurt lehrte und Bloch ein in einem thüringischen Bach gefangenes Exemplar des Bachneunauges zur Beschreibung zur Verfügung stellte.

Nur vier Jahre nach der Erstbeschreibung des Bachneunauges führte der französische Priester Pierre Joseph Bonnaterre (1752-1804), der sich auch als Naturkundler hervortat, in einem den Fischen gewidmeten Band einer von ihm veröffentlichten Enzyklopädie („Tableau encyclopédique et méthodique des trois règnes de la nature“ – ein gewaltiges Übersichtswerk in mehreren Bänden, das Bonnaterre zwischen 1788 und 1798 schuf) einen neuen Gattungsnamen ein: Lampetra. Als klarer wurde, dass es zwischen den verschiedenen Neunaugen zu viele Unterschiede gab, um sie alle in einer Gattung zusammenzufassen, hielt sich Lampetra als ein weiterer Gattungsname neben Petromyzon. Die Ironie: Lampetra bedeutet quasi das Gleiche: „Steinlecker“ oder eben auch wieder „Steinsauger“. Nur diesmal statt aus dem Altgriechischen aus dem Lateinischen hergeleitet.

Fig. 1

Fig. 1: Zeitgenössisches Porträt von Marcus Bloch (1723-1799), ein Stich nach einem Gemälde des Schweizer Künstlers Anton Graff. Quelle: Wikipedia.

Synonyme

Verglichen mit anderen früh beschriebenen Arten ist die Synonymie-Liste beim Bachneunauge vergleichsweise moderat. Aber immerhin, ein paar kommen zusammen, wobei zwei Synonyme darauf zurückgehen, dass es immer wieder Verwirrung um die Abgrenzung zum Flussneunauge (Lampetra fluviatilis) gibt:

Ammocoetes lamproyon, Petromyzon anomalum, Petromyzon bicolor, Petromyzon caecus, Petromyzon fluviatilis larvalis, Petromyzon fluviatilis larvalis, Petromyzon niger, Petromyzon plumbeus, Petromyzon planeri, Petromyzon septoeuil.

Phylogenie

Animalia; Eumetazoa; Bilateria; Nephrozoa; Chordata; Vertebrata; Cyclostomi; Petromyzontiformes; Petromyzontidae; Lampetrinae; Lampetra.

Nachdem wir bereits mit dem Küstenschleimaal (Eptatretus burgeri) bereits die Schleimaal-Linie (Myxinoidea) der Rundmäuler (Cyclostomi) kennengelernt haben, lernen wir nun mit dem Bachneunauge einen Vertreter der Neunaugen-Linie (Petromyzontiformes) kennen. Die beiden Linien sind die beiden einzigen der Rundmäuler, die bis heute überlebt haben. Die lange Zeit hinweg dominierende Hypothese, dass die Rundmäuler kein Monophylum sind, sah die Neunaugen als nähere mit den höheren Wirbeltieren verwandt als die Schleimaale. Nach aktuellem Verständnis sind beide Gruppen aber tatsächlich innerhalb der Rundmäuler verwandt, auch wenn sie unter Berücksichtigung von fossilen Stammlinienvertretern keine direkten Schwestergruppen sind.

Obwohl die Rundmäuler die basalste Linie der Wirbeltiere (Vertebrata) sind, wäre es falsch, sie als primitiv anzusehen. Genauso wie wir es bei den Schleimaalen gesehen haben stellen auch die Neunaugen eine hochgradig spezialisierte Linie darf.

Verbreitung

Das Bachneunauge ist in Europa weit verbreitet. Es kommt in England und Wales vor und bis in den Süden Schottlands und in den meisten Teilen Irlands. In Nordeuropa besiedelt es ganz Schweden und Finnland sowie die südliche Hälfte Norwegens. Nach Osten hin werden Populationen in den baltischen Staaten und dem nordwestlichsten Russland und am Oberlauf der Wolga gemeldet. In Polen, Dänemark, Tschechien und Deutschland kommt die Art zumindest theoretisch fast flächendeckend vor (sie fehlt im südöstlichen Bayern), ebenso in den Benelux-Staaten und der Schweiz. In Frankreich meidet die Art nur den äußersten mediterranen Süden.

Überhaupt franst das Verbreitungsgebiet des Bachneunauges im Mittelmeerraum aus. Auf der Iberischen Halbinsel gibt es lediglich rund um Lissabon und südlich davon eine Population, in Spanien fehlt die Art gänzlich. Der genaue taxonomische Status dieser iberischen Bachneunaugen ist aber ohnehin diskutabel, wie wir weiter unten sehen werden. In Italien soll das Bachneunauge einst von den Alpen im Norden entlang der westlichen Seite der Halbinsel bis hinunter nach Kampanien rund um Neapel vorgekommen sein, außerdem mit einer Population im Flusssystem des Pescara an der Ostseite Italiens. Doch in den letzten 30 Jahren sind die Bestände des Bachneunauges in vielen Teilen Italiens verschwunden. Vor allem im Bereich Toskana und Umbrien verschwand die Art. Geblieben sind inselartige Reliktvorkommen. 2019 wurde das bisher südlichste Vorkommen des Bachneunauges auf der Halbinsel beschrieben, aus dem Fluss Lao, westlich des Ortes Orsomarso.

Damit ist das Bachneunauge eine eher nord-nordwestlich orientierte europäische Art. Im Südosten des Kontinents fehlt sie ganz. Einige aus Kroatien und Bosnien beschriebene Vorkommen beruhen wahrscheinlich auf Verwechslungen mit anderen ähnlichen Arten. Auch nach Osten, über Sibirien hinweg ist sie nicht verbreitet, ebenso sind Angaben über Vorkommen in Nordamerika auf Verwechslungen mit ähnlichen Arten zurückzuführen.

Fig. 2

Fig. 2: Dieses Exemplar eines Bachneunauges, festgesaugt an einem Kiesel, wurde 2001 im kleinen Flüsschen Stepanovsky Potok südöstlich von Prag gefangen. Der Fotograf gab die Länge des Tieres mit 23 cm an, was stattlich wäre für diese Art. Quelle: www.fishbase.se /Fotograf: Pavel Cech.

Eine persönliche Begegnung

Ich möchte hier mit einem persönlichen Erlebnis beginnen. Das Bachneunauge gehört zu den von vielen Leuten völlig ignorierten Arten, obwohl es in unserer direkten Nachbarschaft vorkommt. So ging es mir selber, als ich dem Bachneunauge das erste Mal selbst begegnete. Es war 1995, ich war in der siebten Klasse und natürlich wusste ich, was Neunaugen sind. Also so grob. Ich hatte ein Bild im Kopf von etwas unangenehmen Parasiten im Meer, die sich auch an Menschen saugen könnten um Blut zu saugen. Mir war nicht bewusst, dass Vertreter der Gruppe auch im Süßwasser lebten. Einmal im Jahr fuhr jede Klasse unserer Schule in ein Schullandheim in Niedersgegen, unweit der deutsch-luxemburgischen Grenze. Durch das Grundstück floss der Gaybach. Beim entsprechenden Trip im Frühsommer 1995 nahm ich mir vor, die Organismen im Gaybach näher zu untersuchen. Dazu schnorchelte ich im flachen Wasser und folgte im Wasser dem Lauf weiter stromaufwärts und ein Stück stromabwärts – manchmal in Hosen und T-shirt bis zur Brust im Wasser stehend. Ich entdeckte wirklich viel – verschiedene Libellen gehörten zum Beispiel zum absoluten Tageshöhepunkt. Aber an einem Tag entdeckte ich auf einmal längliche leicht schimmernde Fische (hier als taxonomisch natürlich unpräzisen Alltagsbegriff genutzt). Sie hatten sich an große Kiesel gehangen und tatsächlich gelang es mir ein Exemplar kurz zu fangen, zwecks Identifizierung.

Ich war – vor dem Hintergrund meines damals noch begrenzteren Kenntnisstandes – überrascht und zuerst ein wenig erschrocken, als ich ein Neunauge erkannte. Wie gesagt: Im Kopf das Bild eines blutsaugenden Parasiten. Zurück im Quartier blätterte ich schnell in einem Bestimmungsbuch (damals gab es ja noch nicht überall Internet, Google, Wikipedia etc.) – und wurde fündig. Ich hatte Bachneunaugen entdeckt. Und atmete auf: Im Gegensatz zu vielen ihrer Verwandten vor allem im Meer keine notorischen Blutsauger. Danach beobachtete ich die bräunlich-silbernen Tiere noch einige Tage lang, wie sie sich auf den kiesigen Flächen im Bachbett herumtrieben. In späteren Jahren hab‘ ich sie leider nicht wieder gesehen – vermutlich immer zur falschen Zeit vor Ort gewesen. Schade, ich fand die Vorstellung, dass diese Tiere einerseits genauso Wirbeltiere sind wie wir, andererseits aber gefühlt so fern von uns wie viele Wirbellose, irgendwie faszinierend. Umso mehr scheint es nun angebracht, die Nostalgie zu verlassen und uns der Anatomie und Biologie des Bachneunauges zuzuwenden.

Äußere Erscheinung 1: Ausgewachsenes Bachneunauge

Die Exemplare, die ich 1995 beobachten konnte, waren die ausgewachsenen Stadien des Bachneunauges. Sie stellen das letzte Stadium im Leben dieser Tiere dar, die einen stark gegliederten Lebenszyklus haben (mehr dazu später noch).

Das ausgewachsene Stadium, hier etwas kürzer jetzt immer Adultstadium genannt, ist lang und aalförmig, bei einer Länge von maximal um die 20 cm. Häufig sind die Tiere aber kleiner, zum Teil nur 10-13 cm lang, wobei die Weibchen länger sind als die Männchen. Die Ausstattung mit Flossen ist eher minimalistisch: direkt hinter der Mitte des Körpers gibt es eine erste durchsichtige kleine Rückenflosse, dann mit etwas Abstand eine ebenso durchsichtige größere Rückenflosse kurz vor dem Schwanzende und schließlich rund um dieses Schwanzende einen durchsichtigen Flossensaum. Die Rückenflossen haben beide die Form langgestreckter Dreiecke, die Schwanzflosse ist gerundet. Der Körper ist oberseits von einem dunklen, grünlichen oder bräunlichen Grau, das fließend in ein reines Weiß auf der Bauchseite übergeht. Vor allem die hellgrauen Flanken können silbrig schillern. Außerdem schimmern die Muskelsegmente als regelrechtes „Fischgrätenmuster“ durch die Haut durch.

Am vorderen Körperende fallen sieben reisrunde Kiemenöffnungen auf jeder Seite auf. Ein gut entwickeltes Paar Augen sitzt direkt vor diesen und direkt vor den Augen liegt auf der Kopfoberseite eine einzelne äußere Nasenöffnung. Noch vor den Augen liegt auf der Kopfunterseite außerdem das typischste aller Neunaugen-Merkmale: Die sogenannte Oralscheibe oder Mundscheibe. Rund um die Mundöffnung befindet sich diese Saugscheibe mit einem Durchmesser von 8 bis 9 mm, die einen von Papillen besetzten fast kreisrunden Saum hat und eine trichterartige Vertiefung hin zur Mundöffnung selbst. Die Fläche des Trichters trägt einen Satz Hornzähne. Die Ausprägung der Hornzähne ist relevant zur Artbestimmung bei Neunaugen und so besitzt auch das Bachneunauge eine charakteristische Anordnung. Blickt man genau auf die Mundscheibe sieht man am vorderen Rand der Mundöffnung einen länglichen, gebogenen Hornzahn, am hinteren Rand einen ähnlichen langen Hornzahn, der aber weniger stark gebogen ist. Wenn er stark abgenutzt ist, hat er sogar eine relativ gerade Schnittkante zur Mundöffnung hin. Ohne Abnutzung hat fünf bis neun angedeutete Spitzen. Rechts und links der Mundöffnung liegen je drei ursprünglich ovale, im abgenutzten Zustand dann aber rechteckige Hornzähne. Im vorderen Viertel der Saugscheibe, direkt vor dem querliegenden Zahn am Vorderrand der Mundöffnung, liegen außerdem eine variable Anzahl von kleinen spitzen Zähnchen.

Fig. 3

Fig. 3: Das Exemplar aus der vorigen Abbildung, diesmal hat es sich an einer Glasscheibe angesaugt. Dadurch erkennt man gut die Mundscheibe. Quelle: www.fishbase.se /Fotograf: Pavel Cech.

Neunaugen-Anatomie: Kopf-und Kiemenbereich

Nachdem wir nun das äußere Erscheinungsbild des Adultstadiums betrachtet haben, werfen wir einen näheren Blick auf die Anatomie im Innern, vor allem auf die für Neunaugen typischen Aspekte. Die Textstruktur lege ich hier dabei genau wie beim Küstenschleimaal an, was dem Leser Vergleiche zwischen beiden Tieren erleichtern soll.

Schädelskelett. Das Schädelskelett besteht wie bei den Schleimaalen auch bei Neunaugen aus verschiedenen Knorpelelementen. Die Ohrkapseln sind verknorpelt, zwischen ihnen liegt eine Knorpelspange, die die Hirnkapsel nach oben abdeckt, weitere Knorpelelemente stützen die Kopfseiten und die Schnauze und umgrenzen auch so etwas wie eine Augenhöhle. Die Nasenkapsel ist nicht so stark verknorpelt und liegt in einer Mulde direkt vor der Hirnkapsel. Ein Ringknorpel stützt die Mundscheibe. Ein weiterer Knorpel liegt als langer Stab im Mundboden: Der Pistonknorpel, der den Raspelapparat stützt, der sich hinter der Mundöffnung befindet (nicht unähnlich zum entsprechenden Apparat bei Schleimaalen). Hinter dem Gehirnschädel schließt sich außerdem noch ein flexibles Gitterwerk aus verschiedenen Knorpelspangen an, die den Kiemenkorb stützten. Das Gitterwerk ist bauchseitig durch einen Längsknorpel abgestützt, rückseitig durch die Chorda dorsalis. An seinem hintersten Ende geht es in eine knorpelige Kapsel über, die als Perikardkapsel tatsächlich Teile des Herzens einschließt!

Gehirn. Das Gehirn hat einerseits Gemeinsamkeiten mit den Verhältnissen bei den Schleimaalen. Es ist insgesamt nicht sehr groß, kaum mehr als ein etwas vergrößerter Knubbel am Vorderende des Rückenmarks. Bei genauerem Hinsehen gibt es aber deutliche Unterschiede; vor allem ist das Neunaugengehirn bei den Adultstadien deutlich differenzierter. Ganz vorne sitzt auch hier das Telencephalon mit den Bulbi olfactorii, den Riechkolben. Diese sind gut entwickelt, aber nicht so dominant wie bei den Schleimaalen. Darauf folgen die klar ausdifferenzierten Bereiche des Di-und des Mesencephalons. Im Gegensatz zu den Schleimaalen hat das Diencephalon bei den Neunaugen ganz klar seine für Wirbeltiere typischen optischen Funktionen. Von ihm geht der Hirnnerv II aus, der Sehnerv. Die Sehnerven verbinden das Gehirn hier mit gut entwickelten Augen. Außerdem gehen von der Oberseite des Diencephalons zwei Sinnesbläschen aus, die sogenannten Pinealorgane. Diese dienen zugleich als Hormondrüsen, indem sie bei Dunkelheit ein Enzym produzieren, welches Serotonin in Melatonin verwandelt. Daneben ist das Diencephalon aber auch mit anderen Hirnpartien stark vernetzt, um weitere Funktionen zu unterstützen. Umgekehrt hat das Mesencephalon ein bei den Adultstadien gut ausgebildetes Tectum opticum, welches die komplexen Signale der gut ausgebildeten Augen verarbeiten hilft und mit Informationen aus weiter hinten liegenden Gehirnbereichen vernetzt und dadurch ein wichtiges Assoziationszentrum darstellt. Darunter liegt das mit der Verarbeitung motorischer Reize betraute Tegmentum. Dahinter schließt sich das Rhombencephalon an, welches wesentlich stärker differenziert als bei den Schleimaalen. Es gibt zum Beispiel bei den Neunaugen ein gut ausgebildetes Cerebellum an der Hirnoberseite (das bei den Schleimaalen fehlt), welches mit dem Tectum opticum, dem Tegmentum und den tiefer im Rhombencephalon gelegenen Zentren für die Verarbeitung der Seitenlinienorgan-Signale vernetzt ist sowie mit den motorischen Zentren in den restlichen Bereichen des Rhombencephalon. Diese Vernetzung hat seinen Grund: adulte Neunaugen sind sehr visuell geprägte Tiere, die die visuellen Reize mit denen des Seitenlinienorgans zusammenbringen und die Schwimmbewegungen dann in Reaktion auf diese Reize abstimmen müssen. Der hintere Hirnbereich in Form des Rhombencephalon läuft dann länglich aus, bis die Strukturen in das Rückenmark übergehen. Hier sind motorische Aufgabenbereiche vorherrschend. Die Hirnnerven V bis X bedienen vor allem wichtige Funktionen im Mund-und Kiemenbereich – neben den Muskeln des Kiemenkorbs auch diejenigen, die den Raspelapparat im Maul bewegen. Darin wiederum gleichen Neunaugen den Schleimaalen.

Vestibularapparat. Der Gleichgewichtsapparat ist bei Neunaugen erkennbar komplexer als bei Schleimaalen, aber immer noch einfacher als bei höheren Wirbeltieren. Er besteht auf jeder Seite aus zwei Bogengängen, die an ihrer Basis Ampullen genannte Erweiterungen besitzen, in denen es Haarsinneszellen gibt. Des Weiteren gibt es im gemeinsamen Basisbereich der beiden Bogengänge ein weiteres Feld von Sinneszellen, Macula genannt. Die Sinneshaare dieser Zellen sind in eine Gallerte eingebettet, auf der kleine mineralisierte Partikel, Statolithen, liegen. Bei Beschleunigung oder Lageveränderung des Kopfes im Raum verändert sich die Position dieser Statolithen und dadurch der Druck, der auf die Sinneszellen ausgeübt wird. Daraus berechnet das Gehirn letztlich die Gleichgewichtsinformationen für das Tier. Bemerkenswert ist jedoch, dass die beiden Bogengänge dieses Systems bei Neunaugen eine leichte W-Form haben, was mehr oder weniger einmalig innerhalb der Wirbeltiere zu sein scheint. Bedenkt man, dass die Neunaugen keine direkten Vorläufer stärker abgeleiteter Wirbeltiere sind, sondern mit den Schleimaalen (die ja nur einen Bogengang haben) eine gemeinsame Nebenlinie darstellen, spricht vieles dafür, dass die Ausbildung des Vestibularapparates bei beiden Gruppen jeweils eine eigenständige Entwicklung mit eben solchen Besonderheiten darstellt. Möglicherweise war die ursprüngliche Ausbildung bei den allerersten Wirbeltieren diejenige mit zwei sehr einfachen Bogengängen. Diese wurden bei den Neunaugen komplexer und erhielten die W-Form, während bei den Schleimaalen ein Bogengang dann einfach zurückgebildet wurde. Stärker abgeleitete Wirbeltiere entwickelten wiederum ein Grundvariante mit drei Bogengängen, die sich für sehr stark aktiv sich bewegende Tiere als vorteilhafter herausstellte, da sie komplexere Raum-Informationen ans Gehirn vermittelt.

Sinnesorgane. Das Bachneunauge verfügt über ein großes Repertoir an Sinneswahrnehmungen: Geruchssinn, Sehsinn und auch Tastsinnesorgane inklusive einem ursprünglichen Seitenliniensystem sind gut ausgebildet. Das Seitenliniensystem besteht aus mehreren Reihen von Sinnespapillen in der Epidermis, die vor allem im vorderen Körperbereich konzentriert sind. Ihre Sinneseindrücke, die dem Tier Aufschluss über die es umgebenden Wasserbewegungen geben, werden von bestimmten Nervenzentren im Rhombencephalon, dem hinteren Bereich des Gehirns, verarbeitet. Eine Besonderheit weist der Rand der Mundscheibe auf. Er ist mit Papillen besetzt, auf denen zahlreiche Sinneszellen sitzen, die 1985 näher untersucht wurden. In der Epidermis dieser Papillen sitzen zahlreiche sogenannte Merkel-Zellen. Diese in der Epidermis eingebetteten Zellen sind stark mit Nerven versorgt und dienen grundsätzlich bei Wirbeltieren der Wahrnehmung mechanischen Drucks. Man kann sicherlich davon ausgehen, dass mittels dieser Merkel-Zellen die Papillen des Mundscheibenrands dem Tier wichtige Informationen beim Ansaugen an Oberflächen liefern. Abgesehen von den Merkel-Zellen gibt es auch einen weiteren Sinneszelltypus an der Oberfläche der Papillen, die jeweils mit einigen Mikrovilli, also Sinneshärchen, über die Oberfläche der Epidermis hinausreichen. An ihrer in der Epidermis gelegenen Basis sind diese einzelnstehenden Zellen mit einem Nervenstrang verbunden. Sie reagieren stark auf chemische Reize. Bei Versuchen fand man heraus, dass sie besonders stark auf Wasser mit Rückständen von Forellen (etwa Schleim, Hautschuppen etc.) und auf Schmelzwasser reagieren. Dies könnte den Bachneunaugen zum Beispiel wichtige Informationen darüber geben, wann die günstigste Zeit zum Laichen im Jahresverlauf ist.

Das Nasenorgan liegt direkt vor den Augen an der Kopfoberseite. Es hat eine einzelne unpaare Öffnung nach außen, aber im Innern sind die Kammern für die Schleimhäute mit dem Geruchssinn paarig angelegt. Dies ähnelt entfernt an die Verhältnisse bei den Schleimaalen. Während bei diesen aber das Nasenrohr sich rückwärtig bis in den Rachen verlängert und dort durchbricht – als sogenannter Nasen-Hypophysengang oder Nasen-Rachengang -, endet der Nasenkanal bei den Neunaugen blind. Dadurch kann die Nasenöffnung nicht zur Ventilation des Kiemenbereiches beitragen, Wasser kann nur über die Mundöffnung herangepumpt werden.

Einen großen Unterschied zu den Schleimaalen stellen bei den Neunaugen natürlich die Augen dar. Es handelt sich um ein Paar Linsenaugen, die so typisch für Wirbeltiere sind (und die wir ja selbst auch besitzen). Allerdings gibt es auch noch ein paar Abweichungen von den Augen bei stärker abgeleiteten Wirbeltieren. Nicht nur fehlen Augenlider, auch eine Hornhaut (Cornea) ist nicht vorhanden. Diese entsteht normalerweise aus der Verschmelzung des vorderen Teils der Lederhaut (Sclera; diese umhüllt den gesamten Augapfel) mit einem Teil der Epidermis. Stattdessen ist die Sclera noch gegen die darüber liegende Epidermis verschiebbar. Wenn das Auge auf eine neue Entfernung eingestellt werden soll, bewegen Muskeln von innen die Epidermis, um diese gegen die Sclera zu drücken und beide näher an die Linse heranzubringen. Diese Art der Mechanik ist eine innerhalb der Wirbeltiere einzigartige Variante und wahrscheinlich eine eigenständige Spezialisierung der Neunaugen. Ebenfalls abweichend von anderen Wirbeltieren ist die Gestaltung der Iris. Die Iris stellt lediglich den sichtbaren Teil der mittleren Gewebsschicht der Augapfelwandung dar, der Mittleren Augenhaut. In ihrer Mitte liegt die Pupille genannte Öffnung, durch die das Licht von außen ins Auge fällt. Bei abgeleiteten Wirbeltieren besitzt die Iris oft selbst Muskelzellen, um die Größe der Pupille zu steuern. Diese Muskeln fehlen bei Neunaugen, weshalb die Pupille immer die gleiche Größe hat. Die Iris besitzt bei den Neunaugen außer den Pigmentzellen auch Guaninkristalle, wodurch eine charakteristische metallische, leicht bräunliche Färbung entsteht (Guanin ist eine stickstoffreiche organische Verbindung, die auch als Base in der DNA vorkommt). Direkt hinter der Iris sitzt bei den Neunaugen die Linse, von den begrenzenden Kanten des Glaskörpers (wie der hauptsächliche Teil des Augapfels bezeichnet wird) hinter der Pupille eingeklemmt in Position gehalten wird. Das bei anderen Wirbeltieren übliche Befestigungssystem mit Zonulafasern, die von einer Ciliarkörper genannten Gewebewulst ausgehen, fehlt hier. Im Innern des Augapfels ist die Netzhaut (Retina) bereits sehr ähnlich jener bei vielen Knorpelfischen und abgeleiteten Knochenfischen. Es gibt zwei Arten Zapfenrezeptoren: Die einen bedienen die Wellenlängen aus dem roten Bereich, die anderen aus dem ultravioletten bis blauen Bereich. Zur Hell-Dunkel-Wahrnehmung nutzen die Tiere kurz nach der Metamorphose aus dem Larvenstadium zunächst das Pigmentprotein Rhodopsin, das auf Licht zwischen 492 und 502 nm Wellenlänge reagiert. Zur Laichzeit wird dieses Protein durch Porphyropsin ersetzt, dass den Reaktionsbereich bis auf Wellenlängen von 522 nm ausdehnt. Anzumerken ist allerdings das die Pigmentdichte in der Netzhaut nicht sehr hoch ist. Auch besitzt die Retina eines Neunauges nur relativ wenige bipolare Zellen; diese vernetzen normalerweise mehrere Rezeptoren miteinander, sammeln die ankommenden Reize, bereiten sie ein erstes Mal auf und leiten sie dann weiter. Auch gibt es keine bestimmte Zone mit einer größtmöglichen Schärfe auf der Netzhaut (Fovea centralis). Zusammengefasst sind Neunaugen natürlich im Gegensatz zu Schleimaalen stark optisch orientierte Tiere, aber ihr Sehen ist nicht wie unseres. Sie sehen vornehmlich in blauen, violetten und rötlichen Tönen, aber alles in ziemlich unscharf. Dafür können sie auch bei dämmerigen und diffusen Lichtbedingungen noch ganz gut hellere und dunklere Bereiche unterscheiden, haben also eine gewisse Sicht bei wenig Licht.

Ergänzt wird diese optische Wahrnehmung noch durch die Pinealorgane. Diese liegen ja dicht unterhalb der Kopfoberseite und sind extrem einfach gebaute optische Organe. Sie können vor allem Schwankungen von hell und dunkel wahrnehmen, was wahrscheinlich der Eichung des Lebensrhythmus der Tiere anhand des Tag-und Nachtwechsels dient (daher auch die funktionale Kopplung mit der Hormonproduktion dieses Organkomplexes).

Mund-und Kiemenraum. Im Mund eines Neunauges sitzt, gestützt vom Pistonknorpel, ein Raspelapparat – diesbezüglich fühlt man sich stark an Schleimaale erinnert. Im Detail gibt es aber Unterschiede. Der Raspelapparat besitzt einen sehr beweglichen Raspelkopf, ausgestattet mit sogenannten Zungenzähnen. Dieser kann durch spezielle Muskeln über das Vorderende des Pistonknorpels rotiert werden. Dies ist wichtig, um den Raspelkopf aus dem Weg zu kriegen, wenn der Pistonknorpel gegen das Munddach gepresst wird. Dies ist immer dann der Fall, wenn ein Neunauge sich festsaugt und zur Erzeugung des Unterdrucks den Mundraum mit dem Pistonknorpel abdichtet. Die Bewegungen von Pistonknorpel und Raspelapparat sind so komplex, dass dazu 20 Muskeln nötig sind, die unterhalb des Kiemenbereichs bis in den Bereich des Herzens reichen. Der Kiemenbereich hat auch seine Besonderheiten (und weicht dabei sehr von den Verhältnissen bei den Schleimaalen ab – auch hier muss man bei beiden Gruppen von jeweiligen Eigenentwicklungen ausgehen). Die äußeren Kiemenöffnungen führen jeweils in muskulöse Beutel, die Kiementaschen, in denen sich die je zwei Hemibranchien genannte Kiemen befinden, deren lamellenartigen Filamente gut durchblutet sind. Die zuführenden Arterien und abführenden Venen für die Versorgung der Kiemen liegen jeweils zwischen zwei Kiementaschen. Diese Hauptadern versorgen jeweils dann zwei Hemibranchien, eine zur rechten, eine zur linken. Innen besitzen die Kiementaschen eine weitere Mündung in einen blind endenden Nebengang an der Unterseite der Speiseröhre, den Wassergang oder Ductus pharyngobranchialis. Dessen vordere Mündung in den Mundraum wird durch ein kammartiges Segel (Velum) verschlossen, wenn sich Neunaugen festsaugen oder (bei einigen Arten) Nahrung aufnehmen (dies entfällt hier, da adulte Bachneunaugen nicht fressen).  Dadurch entsteht aber ein Dilemma: Die Kiemenöffnung ist durch diese Organisation des gesamten Apparates die einzige Verbindung der Kiementaschen noch außen – wie sollen sie da „durchlüftet“ werden, also Frischwasser bekommen? Neunaugen haben das Problem durch sehr kräftige Muskeln rund um die Kiementaschen und sogar Schließmuskeln rund um die äußeren Öffnungen gelöst, die zusammen mit dem komplexen gitterartigen Skelett des gesamten Kiemenkorbs (Branchialskelett) als elastischer, aber stabiler Stütze eine Pumpbewegung aufrechterhalten, bei der Wasser allein über die äußeren Kiemenöffnungen in die Kiementaschen herein und auch wieder hinaus gepumpt wird.

Ähnlich wie bei den Schleimaalen zeigt sich bei den Adultstadien der Neunaugen im vordersten Körperabschnitt bereits eine bemerkenswerte Mischung aus ursprünglichen Merkmalen und stark abgeleiteten eigenen Merkmalen. Es sind keine primitiven Tiere, sondern hochgradig spezialisiert.

Fig. 4

Fig. 4: Jüngst aus Süditalien beschriebene Exemplare des Bachneunauges. a) Adultes Stadium, Länge 17 cm. b) Mundscheibe des erwachsenen Tieres, Durchmesser 8,6 mm. c) Kopf-und Kiemenbereich einer Ammocoetes-Larve. Der Abstand zwischen Schnauzenspitze und vorderster Kiemenöffnung beträgt 9 mm. Quelle: Sperone et al. 2019.

Neunaugen-Anatomie: Restlicher Körper

Ähnlich wie bei den Schleimaalen schauen wir uns auch hier nun einige Details des restlichen Körperbaus näher an. Hier wieder wie im vorherigen Abschnitt zunächst bezogen auf die Adultstadien der Neunaugen:

Haut. Bei den adulten Neunaugen ist die Haut als mehrschichtige Epidermis, aber ohne Schuppen aufgebaut. Etwas Schutz bietet ein dünner Schleimfilm. Die Epidermis-Zellen produzieren Keratin, überwiegend nur zur Stützung der eigenen Zellwand; in der Mundregion jedoch stammt aus dieser Quelle das Keratin zur Ausbildung der Hornzähne auf der Mundscheibe.

Skelett, Muskeln und Nerven. Das Stützskelett des Körpers ist noch sehr ursprünglich, allerdings deutlicher ausgeprägt als bei den Schleimaalen. Unterhalb des Rückenmarks verläuft die Chorda dorsalis. An deren Oberseite existieren grob segmental angeordnete Knorpelelemente, die variabel geformt sind und als Arcualia bezeichnet werden. Sie werden als frühe Formen von Elementen einer Wirbelsäule gesehen. Das Rückenmark ist bei adulten Tieren tatsächlich bandförmig. In jedem Segmentabschnitt zwischen den Spinalnerven-Austritten gibt es rund 500 Neuronen unterschiedlichster Art, die auf komplexe Weise miteinander verschaltet sind. Diese Verschaltungen sorgen sogar dafür, dass ein geköpftes Neunauge noch eine ganze Weile weiterhin Schwimmbewegungen ausführen kann. Die Muskulatur dafür ist relativ einfach organisiert. Ein horizontales Septum, welches die Muskelkompartimente in einen oberen und einen unteren Bereich einteilt, fehlt. Daher gibt es schlicht komplett den Körper umfassende Myomere als Muskelsegmente, über 100 insgesamt. In ihrem Zentrum ist jedes Myomer überwiegend aus weißen Fasern der phasischen Muskulatur aufgebaut, die schnell große Energie freisetzen, allerdings auch genauso schnell ermüden. An den Rändern finden sich kleiner Bündel roter Fasern der tonischen Muskulatur, die weniger Energie freisetzen, dafür aber auch eine hohe Ausdauer an den Tag legen. Im Zusammenspiel ermöglichen sie Neunaugen ein zum Teil sehr ausdauerndes Schwimmen durch schlängelnde Bewegungen.

Kreislaufsystem. Das Kreislaufsystem erinnert bereits stark an stärker abgeleitete Wirbeltiere wie Knorpelfische. Eine Besonderheit ist die starke Neigung des Venensystems zur Sinusbildung, also zur Bildung von Sammelgefäßen, in denen Blut aufgefangen und von dort aus dann weiterverteilt wird. Diese finden sich zum Beispiel im Bereich des Raspelapparats. Das Herz ist sehr groß, intern nur in ein Atrium und ein Ventrikel unterteilt. Diese liegen bei den Adultstadien seitlich zueinander verschoben und nicht direkt hintereinander. Das Blut selbst erinnert in seiner Zusammensetzung bereits stark an Knochenfische, allerdings hat das Plasma einen besonders hohen Proteingehalt. Ein Lymphgefäßsystem in dem Sinne ist aber nicht nachweisbar, was an die Schleimaale erinnert.

Verdauungs-und Ausscheidungsorgane. Die Adultstadien des Bachneunauges fressen nichts mehr. Dadurch bildet sich ihr Verdauungstrakt teilweise zurück und ist vor dem Magenabschnitt und am After häufig verschlossen (obliteriert). Die Leber sitzt direkt hinter dem Herzen. Die wichtigsten Ausscheidungsfunktionen haben noch die Nierenanlagen, denn für das Leben im Süßwasser ist eine Aufrechterhaltung des osmotischen Gleichgewichts enorm wichtig. Die Tiere sind im Verhältnis zu ihrer Umgebung hyperosmotisch – ihre Zellen besitzen eine größere Konzentration an gelösten Teilchen als die Umgebung. Das Resultat ist, dass Umgebungswasser in die Körperzellen diffundiert. Über die Nierenanlagen muss das alles in Balance gehalten werden: Zu hohe Teilchenkonzentrationen, die diesen Vorgang noch mehr beschleunigen würden, müssen abgeführt werden können, zugleich muss überschüssiges Wasser ebenfalls ausgeschieden werden. Üblicherweise versuchen die Tiere einen inneren osmotischen Druck von ca. 300 mOsm/l (Milliosmol; Osmol ist eine Einheit für die Beschreibung der Osmolarität, also der Gesamtkonzentration gelöster Teilchen) aufrechtzuerhalten. In diesem Bereich können die Körperzellen einerseits den notwendigen Gehalt an Nährstoffen, energiespeichernden Molekülen und Ladungsmolekülen für die Prozesse an ihrer Zelloberfläche aufrechterhalten, andererseits diffundiert Wasser nicht so schnell herein, dass die Zellen platzen bevor das Wasser wieder abgeführt wurde. Im etwa selben Bereich halten auch im Süßwasser lebende Knochenfische und sogar die meisten Landwirbeltiere (Tetrapoda) ihren osmotischen Druck. Dies scheint sich für den Metabolismus von Wirbeltierzellen also als ganz guter Weg erwiesen zu haben. Die Nieren sind im Adultstadium im oberen hinteren Körperbereich als ein Paar länglicher, zusammenhängender Stränge ausgebildet, deren segmentale Gliederung noch durch die zahlreichen Nierentubuli erkennbar ist, die in regelmäßigen Abständen von dem Organ ausgehen und zum eigentlichen Harnleiter führen, der an der Genitalpapille im unteren hinteren Körperbereich nach außen mündet. Diese Nierenorgane stellen eigentlich den Ophistonephros dar, die Hinterniere. Von den vorderen Nierenanlagen sind im Adultstadium nur noch Reste vorhanden, die direkt mit den Venen verbunden sind und der Blutbildung dienen.

Fortpflanzungsorgane. Das Adultstadium des Bachneunauges hat gut ausgeprägte Gonaden. Anders als bei den Schleimaalen gibt es hier recht klare Geschlechtsverhältnisse: Die Tiere sind entweder Männchen oder Weibchen, Zwitterstadien gibt es nicht. Die Eierstöcke respektive die Hoden füllen große Bereiche der Leibeshöhle des Rumpfes aus, wenn sie mit herangereiften Geschlechtszellen angefüllt sind. Sowohl Eierstöcke wie Hoden haben keinen direkten Ausführkanal, stattdessen nur Öffnungen direkt in die Leibeshöhle. Von dieser führt ein paarig angelegter, kurzer Kanal an der Genitalpapille nach außen. Dieser Kanal dient faktisch als Genitalkanal zur Freisetzung der Geschlechtszellen nach außen. Diesbezüglich ist die Anatomie eines Neunauges sehr einfach gehalten.

Fig. 5

Fig. 5: Eine Ammocoetes-Larve des Bachneunauges, gefangen in der Spree bei Friedersdorf. Quelle: Wikipedia/ Fotograf: Mike Krüger. https://creativecommons.org/licenses/by/2.5/deed.en

Alles anders: Das Larvenstadium

Nun haben wir einen Überblick über die wichtigsten Aspekte der Anatomie eines Bachneunauges. Nur: Damit haben wir nur das geschlechtsreife Adultstadium erfasst. Die meiste Zeit ihres Lebens verbringen die Tiere aber in ihrem Larvenstadium. Die Larven werden wissenschaftlich Ammocoetes genannt, in der alten Umgangssprache der Fische auch Querder. Sie unterscheiden sich so stark vom Adultstadium, dass es sogar Zeiten gab, in denen diese Larven für eine eigene Gattung gehalten wurden. Daher müssen wir hier einige anatomische Aspekte der Querder näher anschauen.

Oberflächlich sind die Querder des Bachneunauges zunächst durchaus nicht unähnlich den adulten Tieren. Sie werden länger als die Adultstadien, im Schnitt um die 15 cm, wobei die Länge bei Querdern im selben Entwicklungsabschnitt stark schwanken. Vermutlich sind sie abhängig vom Nahrungsangebot im Lebensraum der Querder, das von Flussabschnitt zu Flussabschnitt stark schwanken kann. Es sind aalförmige Tiere mit einer bräunlichen Oberseitenfärbung und Flossensaum im Schwanzbereich. Die Rückenflossen, die bei den adulten Tieren so markant sind, sind hier relativ klein. Bei näherer Ansicht offenbar sich dann massive Unterschiede. Schon die Haut ist anders: Sie besteht aus einer einzelnen Schicht und besitzt an ihrer Oberseite eine mikroskopische Bewimperung aus Mikrovilli (also Zellhärchen, wie man sie sonst bei Sinneszellen oft findet). Und beguckt man sich den Kopf genauer, fallen noch massivere Unterschiede zum Adultstadium auf: Die Augen zum Beispiel sind nur rudimentär entwickelt, sie liegen tief unter der Haut, von der Epidermis durch eine dicke Bindegewebsschicht getrennt. Die einzelnen Teile der Augenanlage sind noch sehr wenig ausdifferenziert und man nimmt an, dass sie in diesem Stadium kaum mehr als hell und dunkel wahrnehmen können. Dafür gibt es am ganzen Körper lichtempfindliche Bereiche der Epidermis. Dies erinnert durchaus ein wenig an Vertreter der Schleimaale. Noch krasser ist das komplette Fehlen einer Saugscheibe rund um den Mund. Stattdessen gibt es unterhalb einer halbkreisförmigen, kapuzenartigen Schnauze eine ausgeprägte Ober-und Unterlippe mit jeweils zahlreichen Borsten (Zirren genannt an dieser Stelle) rund um die rundliche Öffnung. Der dahinterliegende kurze Mundraum besitzt keinen Raspelapparat und kann bei Bedarf zum Schlund hin mit einem Segel (Velum) abgeschlossen werden. Der Schlund (Pharynx) wiederum besitzt breite Durchgänge zu den Kiemen. Diese haben aber eine Filtrierfunktion, weniger eine Atemfunktion – der Gasaustausch erfolgt bei den Larven überwiegend über die Haut. Mit Hilfe von Bewegungen des Velums und des muskulösen Kiemenapparates wird ein Durchstrom erzeugt, bei dem das Wasser über den Mund eintritt, in den Pharynx strömt und diesen über die Kiemen wieder verlässt (also genau das, was beim Adultstadium nicht mehr geht). Unterhalb des Pharynx gibt es das sogenannte Endostyl, eine rinnenartige Einbuchtung mit drüsenhaltigem Gewebe als Auskleidung. Diese Drüsen produzieren Schleim, der eine Rolle bei der Nahrungsaufnahme hat. Folgt man dem Verdauungstrakt weiter nach hinten, fällt auf, dass der Darm im Gegensatz zu adulten Bachneunaugen gut ausgebildet ist und intern durch eine Spiralfalte strukturiert ist.

Auch andere Organe und Strukturen sind deutlich verschieden zu den Adultstadien. Die Rumpfmuskulatur ist noch weniger stark differenziert. Atrium und Ventrikel beim Herzen sind hintereinander anstatt nebeneinander ausgebildet. Auch die Nieren sind noch anders ausgebildet: Eine Vorniere (Pronephros), die einfacher gebaut ist als die Niere des Adultstadiums, und sich mit mehreren segmental angelegten Abschnitten in den vorderen Teil der Leibeshöhle öffnet, unweit des Herzens. Weiter hinten liegt das Nephrostomkanälchen, welches in den Harnleiter führt.

Sogar das Nervensystem weist Unterschiede auf. Das Rückenmark hat bei den Querdern noch einen runden Querschnitt. Und das Gehirn ist in einigen Abschnitten noch weniger stark ausdifferenziert und entwickelt als im Adultstadium. Das alles verweist bereits auf einen wichtigen Umstand: Die Ammocoetes-Stadien führen ein gänzlich anderes Leben als die Adultstadien. Und doch muss man von einem Zustand zum anderen kommen.

Metamorphose

Den Entwicklungsverlauf von den Querdern zu den adulten Tieren beim Bachneunauge und bei der nah verwandten Art des Flussneunauges (Lampetra fluviatilis) untersuchten in den 1970er Jahren zwei Forscher näher: Die beiden Briten David J. Bird und Ian C. Potter, die damals beide gerade an der Murdoch University im Süden des westaustralischen Perth arbeiteten. Als Grundlage ihrer Arbeit fingen sie in verschiedenen Flüssen zahlreiche Querder, um dann die Metamorphose im Labor zu beobachten, wobei bei jedem Stadium ein Teil der Tiere zur Obduktion und Untersuchung unter dem Mikroskop getötet und in Formalin konserviert wurde. Im Laufe mehrerer Jahre wurden über 500 Bachneunaugen in diese Untersuchung aufgenommen. Sie beschrieben umfangreich die einzelnen Metamorphosestadien, zusammen mit dem zeitlichen Verlauf der Entwicklung, außerdem lieferten sie ausgiebige Messdaten für die Körpergröße und Körpermaße der Tiere in den jeweiligen Entwicklungsstadien mit. Die Ergebnisse publizierten sie im Wesentlichen in zwei Papern, die beide 1979 erschienen. Hier werde ich ihre Ergebnisse zum Bachneunauge zusammenfassen.

Bird und Potter beschreiben als Startpunkt das Endstadium der eigentlichen Ammocoetes-Form, wie sie hier auch schon oben beschrieben ist. Danach folgen sechs eigentliche Metamorphose-Stadium und teilen die Adultform in noch einmal drei Stadien ein. Beginnen wir mit den Metamorphose-Stadien:

Stadium 1: Es tut sich etwas bei der Ammocoetes-Larve. Und zwar bei den Augen. Sie werden deutlichere, schwärzliche Flecken und beginnen sich stärker zu differenzieren. Gleichzeitig wird die Schnauze ein wenig kürzer und die Begrenzung zum Mund wird allmählich zu einem deutlicheren Rand, während sich die Vorderlippe am Mund allmählich verkürzt. Die Körperproportionen lassen sich als durchschnittliche Prozentanteile an der Gesamtlänge ganz gut beschreiben (hier ausgewählt drei Hauptabschnitte): Kiemenbereichslänge 11,5 % (Männchen) bzw. knapp 12 % (Weibchen), Rumpflänge 51,5 % (Männchen) bzw. 52,5 % (Weibchen), Schwanzlänge 30 % (Männchen) bzw. 29 % (Weibchen).

Stadium 2: Die bereits im vorigen Stadium beobachteten Entwicklungen verstärken sich. Die Augen sind nun klar erkennbare dunkle Flecken. Die Zirren rund um den Mund bilden sich zurück, die Schnauze und die Mundlippen formen sich zusehends um, beginnen die Grundstruktur für die spätere Mundscheibe zu bilden. Die Proportionen: Kiemenbereichslänge knapp 11 % bei beiden Geschlechtern, Rumpflänge 53 % (Männchen) bzw. 53,5 % (Weibchen), Schwanzlänge 29,5 % (Männchen) bzw. 29 % (Weibchen).

Stadium 3: Die Vorderlippe ist nun deutlich kürzer und verdickt. Die Hinterlippe und die Seitenränder des Mauls sind nun ebenfalls verdickt, allerdings noch nicht miteinander verschmolzen. Bei den Augen lassen sich erstmals Iris und Pupille mit bloßem Blick unterscheiden. Im Mund selbst beginnt sich aus einer Falte des Rachenbodens eine erste Anlage des Raspelapparates zu bilden. Die Proportionen: Kiemenbereichslänge 9,5 % (Männchen) bzw. 10 % (Weibchen), Rumpflänge 53,5 % (Männchen) bzw. 54 % (Weibchen), Schwanzlänge beide Geschlechter 29 %.

Stadium 4: Die Augen sind jetzt noch deutlicher ausgeprägt. Zugleich bilden die bisherigen Lippen und Seitenränder des Mundbereichs erstmals durch Verschmelzung eine durchgehende, mehr oder weniger kreisrunde Begrenzung – erstmals ist die Mundscheibe deutlich erkennbar. Der Raspelapparat bildet sich weiter heraus und ist nun erkennbar aktiv. Von den Mundzirren sind nur noch minimale Reste vorhanden. Die Proportionen: Kiemenbereichslänge beide Geschlechter knapp 10 %, Rumpflänge knapp 53 % (Männchen) bzw. knapp 54 % (Weibchen), Schwanzlänge beide Geschlechter etwa 29 %.

Stadium 5: Die Iris der Augen ist jetzt wunderbar silbrig zu erkennen. Die Mundscheibe formt sich weiter aus. Es sind keine Zirren mehr zu sehen, dafür erste Hornzähne auf der Mundscheibe. Die Körperpigmentierung verändert sich stärker, wird am Bauch silbriger. Die Proportionen: Kiemenbereichslänge 9,5 % (Männchen) bzw. knapp 10 % (Weibchen), Rumpflänge 52 % (Männchen) bzw. knapp über 52,5 % (Weibchen), Schwanzlänge 29,5 % (Männchen) bzw. knapp über 29 % (Weibchen).

Stadium 6: Die Mundscheibe hat nun deutlich ausgeprägte Zähne, wird größer und entwickelt erstmals die Papillen entlang des Saums. Die Pigmentierung des gesamten Körpers verändert sich weiter, sie wird im Kopf-und Kiemenbereich stärker. Außerdem zeigen sich nun deutlicher die Poren des rudimentären Seitenlinienorgans. Aufgrund der inzwischen gut ausgeprägten großen Augen wird dieses Stadium auch „Macrophthalmia“ genannt. Die Proportionen: Kiemenbereichslänge 9,5 % (Männchen) bzw. knapp 10 % (Weibchen), Rumpflänge beide Geschlechter rund 51 %, Schwanzlänge beide Geschlechter knapp über 29 %.

Es ist das letzte Stadium, dass man noch nicht als Teil der Adultform ansehen kann. Innerlich haben sich während all dieser Stadien weitere Änderungen vollzogen: Der Raspelapparat hat sich weiter ausgeformt, der Schlund-und Kiemenbereich wurde umgebaut, so dass die bereits beschriebenen Verhältnisse der Adultform entstehen, die Anordnung von Atrium und Ventrikel des Herzens verändert sich, der Darm wird verschlossen und teilweise zurückgebildet. Auch das Gehirn differenzierte sich weiter. Aus dem Endostyl entsteht eine frühe Form einer paarigen Schilddrüse, die nun Hormone produziert, aber keinen Schleim mehr. Dieser Funktionswechsel und der Umbau des Kiemenbereiches geht damit einher, dass die Tiere nun tatsächlich hauptsächlich über die Kiemen atmen. Nach dem „Macrophthalmia“-Stadium hören die Veränderungen der Tiere aber nicht auf. Auch in den drei Adultstadien tut sich einiges:

Unreifes Adultstadium (Stadium 7): Die Adultformen sind zu Beginn noch nicht voll geschlechtsreif, aber schon erkennbar ein ausgewachsenes Bachneunauge. Die Mundscheibe ist groß und gut ausgeprägt, mit deutlich ausgeprägten Hornzähnen. Die Färbung des gesamten Körpers ist nun deutlich bräunlich, der silbrige Schimmer ist auf die hellen Bereiche zurückgegangen. Der Flossensaum am Körperende ist stärker ausgeprägt, auch gut ausgeprägt sind jetzt die beiden Rückenflossen, mit deutlichem Abstand zueinander. Die Proportionen: Kiemenbereichslänge beide Geschlechter rund 9,5 %, Rumpflänge 49 % (Männchen) bzw. 51,5 % (Weibchen), Schwanzlänge 29,5 % (Männchen) bzw. 29 % (Weibchen).

Reifes Adultstadium (Stadium 8): Bei Erreichen der vollen Geschlechtsreife gut sich auch bei den Adultformen noch etwas. Die Färbung der Körperoberseite ist noch kräftiger und die adulten Tiere sind am wenigsten silbrig glänzend. Die beiden Rückenflossen sind nicht mehr so weit auseinander liegend; es gibt sogar Exemplare, bei denen die eine in die andere übergeht. Über der Nasenöffnung ist nun eine kleine röhrenförmige Struktur erkennbar. Und die Hornzähne auf der Mundscheibe sind nun stark abgenutzt, flacher und unauffälliger. Die wichtigste Veränderung ist aber sicherlich die volle Ausprägung der inneren Geschlechtsorgane und äußerer Geschlechtsmerkmale. Die Weibchen zum Beispiel besitzen einen leicht aufwärts gebogenen Schwanz, eine erkennbare Gewebeschwellung an der Basis der hinteren Rückenflosse und eine markante Falte direkt hinter der Kloakenöffnung. Innerlich produzieren ihre Eierstöcker Eier, die sich dann im Bauchraum sammeln. Der Leib der Weibchen ist dann so prall gefüllt, dass man die Eier durch die nicht pigmentierte Bauchseite sehen kann. Die Männchen sind dagegen schlanker, trotz des in ihrem Bauchraum angesammelten Ejakulats. Dafür besitzen sie eine markante Urogenitalpapille an der Kloake. Die Proportionen: Kiemenbereichslänge knapp 10 % (Männchen) bzw. 9,5 % (Weibchen), Rumpflänge 48 % (Männchen) bzw. knapp 53 % (Weibchen), Schwanzlänge knapp 31 % (Männchen) bzw. 27 % (Weibchen).

„Verbrauchtes“ Adultstadium (Stadium 9): Das letzte Stadium bevor die Adultform schließlich ihr Leben aushaucht ist im Grunde nichts anderes als der Zustand der Tiere nach der Fortpflanzungsphase. Sie sind deutlich schlanker, da die Leiber nicht mehr mit Eiern oder Spermien angefüllt sind, und die Haut wirkt irgendwie leicht faltig oder runzelig. Individuen in diesem Zustand haben nicht mehr lange zu leben. Die Proportionen in diesem Stadium: Kiemenbereichslänge 9,5 % (Männchen) bzw. 10,5 % (Weibchen), Rumpflänge knapp über 47 % (Männchen) bzw. 52,5 % (Weibchen), Schwanzlänge 32 % (Männchen) bzw. 26,5 % (Weibchen).

Birds und Potters Ergebnisse zeigen einen bemerkenswerten Verlauf der körperlichen Entwicklung beim Bachneunauge. Nicht nur wird der Körper zum Teil stark in seinen Proportionen verändert, dies geht einher mit einem massiven Umbau zahlreicher Organkomplexe, sowohl äußerlich wie innerlich. Heute weiß man, dass der Wandel sogar bis in die Physiologie reicht, weil sich z.B. die Nieren stark verändern. Zu den erstmal wenig naheliegenden Veränderungen gehört dabei auch eine Reduktion der Körperlänge bei der Metamorphose zum Adulttier. Tatsächlich sind die adulten Bachneunaugen ein wenig kürzer als das letzte Querder-Stadium. Dabei schwankt das Ausmaß dieser Verkürzung aber, ebenso wie die Größe der Tiere von Standort zu Standort einer gewissen Variation unterworfen ist, je nach Umfang des lokalen Nahrungsangebots. Möglicherweise steht der Verlust von Größe damit in Zusammenhang, dass der adulte Körper nun keine Nahrung mehr aufnimmt, zugleich aber Spermien und Eier heranreifen lassen soll – die Energie dafür muss er quasi aus eigenen Reserven bestreiten, das Tier lebt also im Adultstadium von der Substanz. Nach so viel Anatomie sollten wir uns nun aber tatsächlich anschauen, warum ein solch gravierender Wandel im Laufe des Lebens für das Bachneunauge überhaupt nötig ist.

Fig. 6

Fig. 6: Die Veränderungen des Kopf-und Kiemenbereichs des Bachneunauges während der Metamorphose von außen betrachtet. In der linken Spalte die Seitenansicht, in der rechten Spalte die Bauchansicht. A & B: Stadium 5; C & D: Stadium 6; E & F: Stadium 7 (unreifes Adultstadium); G & H: Stadium 8 (reifes Adultstadium); I & J: Stadium 9 („verbrauchtes“ Adultstadium). Quelle: Bird & Potter 1979.

Zwei Leben

Das Bachneunauge lebt in den Oberläufen der Flusssysteme in seinem Lebensraum – im Bereich der Bäche und kleinen Flussläufe, wo das Wasser in aller Regel noch schneller fließt und sauerstoffreich ist. Der Untergrund ist hier überwiegend aus fein-bis grobkörnigem Kies, vereinzeltem Geröll und verstreuten Sandflächen zusammengesetzt, es gibt stellenweise an die Strömung angepasste Wasserpflanzen. In Mitteleuropa spricht man hier meist von der Forellen-und der Äschenregion eines Fließgewässers, benannt nach häufigen Charakterfischen dieser Gewässer. In diesem Lebensraum lebt das Bachneunauge faktisch zwei Leben: Ein längeres als Querder und dann nach der Metamorphose ein kürzeres als adultes Tier.

Die Querder leben, vereinfacht beschrieben, im sandigen Untergrund des Bachbetts eingegraben. Sie graben sich eine gebogene Röhre in den Sand oder Schlamm, deren Wände mit einem schleimigen Sekret zusammengekittet werden. In dieser Röhre sind die Querder gut geschützt. Sie strecken nur ihren Kopf gerade so weit heraus, dass sie ihre Maulöffnung in die Wasserströmung halten können; bei Störungen ziehen sich die Tiere sofort in den Untergrund zurück. Die Atmung erfolgt überwiegend über die Körperoberfläche, der gesamte Mund-Kiemenbereich dient der Nahrungsaufnahme: Während die Zirren den Mund vor zu großen Partikeln schützen, werden von der Strömung herangetragene organische Schwebstoffe im Pharynx (Kiemendarm, also faktisch der Schlund mit den Kiemen) von einem Netz aus Schleimabsonderungen des Endostyls aufgefangen. Von dort werden sie mittels schleimiger Sekrete quasi eingepackt, um weiter Richtung Magen-Darm-Trakt befördert zu werden. Spannender wird das Leben als larvales Bachneunauge auch nicht. Mehrere Jahre lang verbringen die Tiere eingegraben und filtrierend. Aber selbst das genauer zu verstehen, kann das Ziel mancher Wissenschaftler sein.

Ian C. Potter sind wir schon mal begegnet, als einer der beiden Forscher, die die Metamorphose beim Bachneunauge untersuchten. Jedenfalls untersuchte er mit einem anderen britischen Kollegen, J. W. Moore, ebenfalls in den 1970er Jahren die Ernährungsweise der Querder. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen, die im Labor stattfanden, veröffentlichten die beiden 1976. Was haben Potter und Moore gemacht? Sie haben – vereinfacht gesagt – im Labor einige gefangene Querder mit unterschiedlichem Futter, wie es in freier Natur vorkommt, gefüttert. Und zwar über 60 Tage hinweg. Eine Gruppe wurde bei einer Wassertemperatur von nur 5° Celsius gehalten, eine bei 15° Celsius. Außerdem wurde die Zunahme an Körpermasse gemessen und durch eine Analyse der Fäkalien und des Lipidgehalts des Körpergewebes der Querder auch der Nährstoffhaushalt der Tiere in Augenschein genommen. Dabei kamen tatsächlich einige interessante Ergebnisse bei rum.

Festhalten lässt sich: 5° Celsius ist den Tieren etwas zu kühl. Die Querder gehen zwar nicht ein, aber ihr Stoffwechsel ist dann so niedrig, dass sie im Grunde nicht wachsen. Bei 15° Celsius stellte sich Wachstum ein, sofern die Nahrung stimmte. Man sagt das so leichthin – Schwebstoffe im Wasser, die als Nahrung dienen. Tatsächlich kann (und muss) man das genauer differenzieren. Zu nennen sind hier zum Beispiel Algen, verschiedene Bakterien und abgestorbene Schwebstoffe, allgemein als Detritus bezeichnet. Diese Komponenten besitzen sehr unterschiedliche Nährwerte. Algen zum Beispiel sind reich an Lipiden (Anteil bis zu 23 %), bei geringeren Anteilen von Proteinen (bis zu 14 %) und Kohlenhydraten (bis zu 21 %). Sie besitzen aber auch einen recht hohen Anteil anorganischer, unverdaulicher Rückstände – viele einzellige Algen besitzen mineralisierte Schalen. Hier kann der Anteil 41 % erreichen. Der geringste Anteil wird von Zellulose abgedeckt (maximal 5 %). Bakterien sind deutlich unterschiedlich davon. Sie besitzen zwar einen ähnlichen Anteil an Lipiden, aber praktisch keine Kohlenhydrate (maximal 6 %) und kaum anorganische Komponenten (maximal 9 %) und keinerlei Zellulose. Dafür sind sie enorm reich an Proteinen (bis zu 67 %). Es ist jedoch zu beachten, dass diese Werte je nach Bakterienart deutlich schwanken können. Detritus wiederum, der ja aus den toten Resten und Stoffwechselprodukten von Organismen zusammengesetzt ist, erweist sich als extrem Nährstoffarm. Die anorganischen Komponenten liegen bei 65 %, die nächstgrößere Fraktion sind Kohlenhydrate mit bis zu 33 %, gefolgt von Zellulose mit 7 bis 9 % (man erinnere sich: Zellulose ist recht langlebig und zäh, für nur wenige Organismen verdaulich). Proteine und Lipide jedoch kommen nur im niedrigen einstelligen Prozentbereich vor. Und so verwundert es nicht, dass sich sehr unterschiedliche Ergebnisse einstellten, wenn die beiden Forscher ihre Querder 60 Tage lang nur mit einer dieser möglichen Nahrungskomponenten fütterten. Wurden den Tieren nur im Wasser gelöste organische Substanzen oder Bakterien mit einer Konzentration von nur eine Million Zellen pro Milliliter angeboten, führte dies zu Gewichtsverlust. Oder kurz gesagt: Die Tiere waren faktisch unterernährt. Erhöhte man das Bakterienangebot, z.B. von E.coli, auf 100 Millionen Zellen pro Milliliter stellte sich eine minimale Gewichtszunahme ein. Bemerkenswerterweise setzten die Tiere bei reichlichem Detritusangebot sogar mehr an Gewicht an als bei einer reinen Bakteriendiät. Am ergiebigsten war für die Larven eindeutig eine Algendiät, die in 60 Tagen eine Gewichtszunahme von 3,4 % ergab, bei einer Algenkonzentration zwischen 1 und 2 Millionen Zellen pro Milliliter.

Lässt man sich diese Ergebnisse durch den Kopf gehen, wird klar, warum in freier Wildbahn die Bachneunaugen je nach Standort stark unterschiedliche Größen erreichen: Das Größenwachstum wird durch die Zusammensetzung der Nahrung und die vorherrschenden Wassertemperaturen beeinflusst. Wobei natürlich in freier Wildbahn gilt, dass die Temperaturen im Jahresverlauf schwanken und sogar die Nahrungszusammensetzung nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich unterschiedlich ist. In einem zweiten Paper veröffentlichten Moore und Potter ergänzende Befunde, die das sehr deutlich zeigen: Als sie bei in englischen Gewässern – in Gloucestershire und Somerset – gefangenen Bachneunaugen-Querdern die Mageninhalte untersuchten, fanden sich in einem Bachlauf im Winter nur 0,01 % Algen in den Nahrungsresten, im Sommer 0,3 %. In einem anderen Bachlauf, der deutlich produktiver war, waren es wiederum 1,5 % Algen. Doch egal wo die Ammocoetes-Larven des Bachneunauges ihre Entwicklung durchmachen, sie müssen genügend Fettreserven anlegen, bevor sie zur Metamorphose schreiten können. Dies bedingt zweierlei: Erstens kann die Entwicklungszeit bis zur Metamorphose unterschiedlich lang sein, drei oder fünf Jahre. Zweitens steckt der Organismus ab einem bestimmten Punkt im Zweifel eher Energie in die Fettreserven als ins Größenwachstum. Am Vorabend der Metamorphose (in England meistens im August) konnten Moore und Potter schließlich einen Fettgehalt von durchschnittlich 14,6 % in den Querdern messen. Nach der Metamorphose, die sich durchaus über Wochen oder Monate hinzieht, und kurz vor dem Ablaichen (in England üblicherweise im April), ist der Fettgehalt in den Tieren dann auf durchschnittlich 8,9 % gesunken. Kein Wunder: Das Fettgewebe liefert den Energiespeicher für die ganze Umwandlungsarbeit und dann die Produktion von Eiern und Spermien, da die Tiere selbst das Fressen ja einstellen und keinerlei Nahrung mehr zu sich nehmen.

Fig. 7

Fig. 7:  Schematische Darstellung, wie die Querder im Schlamm eingegraben liegen und ihre Mundöffnung gegen die Wasserströmung halten. Quelle: Westheide & Rieger 2010.

Fallbeispiel: Südschweden

Es gibt ein sehr ausführlich erforschtes Fallbeispiel für den Lebenswandel des Bachneunauges – und zwar aus Schweden. Zu verdanken ist das dem Ökologen Björn Malmqvist (1946-2010), der seine Ergebnisse Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre in einer ganzen Reihe von Fachartikeln veröffentlichte. Malmqvist stammte aus dem südschwedischen Helsingborg und studierte zunächst an der Universität von Lund. In den 1970er Jahren wechselte er nach seinem ersten Abschluss zur Universität von Umeå, in die Abteilung für Ökologie und Umweltwissenschaften (Department of Ecology & Environmental Sciences). Dort nahm seine Forschungsarbeit im Bereich der Süßwasserökologie an Fahrt auf – ein Forschungssektor, dem Malmqvist Zeit seines Lebens verbunden bleiben sollte. Zwar lag sein erster Fokus auf Insekten, aber schon bald landete er bei den Neunaugen. Die Ökologie des Bachneunauges wurde zum Thema seiner Doktorarbeit, die 1982 mit dem Titel „The feeding, breeding and population ecology of the brook lamprey (Lampetra planeri)“ und genau aus dieser gingen die veröffentlichten Artikel hervor. Malmqvists Arbeit gehört zu den umfassendsten, die zu dieser Art gemacht wurden. Für die Feldforschung begab sich Malmqvist in den Süden Schwedens, wo das Bachneunauge in mehreren kleinen Bachläufen und Zuflüssen größerer Gewässer lebt. So erforschte er das Migrationsverhalten der Tiere unter anderem im kleinen Bach Länsmannsbäcken, der in den See Krankesjön mündet (etwa 17 km östlich von Lund, bzw. 30 km nordöstlich von Malmö). Für andere Untersuchungen diente das kleine Flüsschen Stampån als Fanggebiet für Bachneunaugen, rund 88 km süd-südöstlich von Göteborg. Verschaffen wir uns doch einen kurzen Überblick über einige wichtige Ergebnisse.

Im Länsmannsbäcken untersuchte Malmqvist das Wanderungsverhalten in den Jahren 1977 und 1978 näher. Es lohnt eine kurze Betrachtung der (damaligen) Umweltverhältnisse dort. Das kleine Flüsschen ist gerade mal 5 km lang und im Schnitt 2 m breit. Am Unterlauf, kurz vor dem Einlauf in den See, ist der Boden sandig. Je weiter man stromaufwärts geht, umso kiesiger wird der Bachgrund. Die Vegetation ist an den Ufern am Unterlauf von Kolbengewächsen, Schilfrohr und Gräsern bestimmt, weiter flussaufwärts treten die Kolbengewächse in den Hintergrund und es kommen Wassersterne (Callitriche) hinzu. Der Wasserstand kann je nach Niederschlagsmengen stark schwanken. Der obere Lauf des Länsmannsbäcken ist vom Mittel-und Unterlauf durch ein Wasserwehr getrennt. Die Bachneunaugen kommen nur unterhalb dieser künstlichen Anlage vor. In beiden Jahren erschienen die Adultstadien der Bachneunaugen ab Mitte April zur Wanderung, die der Fortpflanzung vorausgeht. Sie wachsen vorher im Unterlaufbereich oder gar im See heran. Gefangene Exemplare aus dem Länsmannsbäcken wurden über mehrere Jahre hinweg gemessen. So wurden zwischen 1975 und 1978 hier 359 Männchen gefangen, die zwischen 11,9 und 17 cm lang waren, wobei der Durchschnitt über die Jahre hinweg zwischen 13,6 und 14,1 cm schwankte. Im selben Zeitraum wurden 219 Weibchen vermessen, deren Länge zwischen 11,4 und 18 cm betrug, mit Durchschnittswerten zwischen 14,2 und 14,8 cm. Wie man es von der Art kennt waren die Weibchen also etwas größer. Dafür waren tatsächlich in beiden näher betrachteten Jahren (1977 und 1978) die Männchen um etwa 50 % häufiger. Eine solche Überzahl der Männchen bestätigt Befunde aus früheren Studien in England. So hatte der auf Neunaugen spezialisierte Martin Weatherhead Hardisty von der University of Bath schon nach dem Zweiten Weltkrieg bei einem jahrelangen Monitoring einer Bachneunaugen-Population in Somerset festgestellt, dass das Geschlechterverhältnis zur Laichzeit meist bei etwa 2 zu 1 zugunsten der Männchen liegt, manchmal sogar bei 3,4 zu 1. Aber zurück nach Schweden: Die Wanderungsbewegung in den mittleren Bachlauf, tatsächlich nur wenige Kilometer, oder gar nur hundert Meter, setzte 1977 ab Mitte April ein und dauerte bis Mitte Mai, ziemlich genau einen Monat. 1978 verteilte sich das stärker: Die Wanderungsbewegung setzte früher ein, Anfang April, und dauerte länger, bis Ende Mai. Dafür gab es auffällige Unterbrechungen, etwa Mitte April und in der letzten Aprilwoche. In beiden Jahren wanderten die meisten Bachneunaugen bei Nacht und nur ein geringer Prozentsatz bei Tag. Malmqvist erhob auch Daten zu wichtigen Umweltparametern, zum Beispiel Temperatur und Regenmenge. Letztere bestimmt sehr direkt den Wasserstand in dem Bach und damit auch die Strömungsgeschwindigkeit. Beide Parameter scheinen tatsächlich einen Effekt darauf zu haben, wann die Wanderung vom unteren Bachlauf zu den Laichgründen im mittleren Bachlauf beginnt und wie sie verläuft. So scheint die unterschiedliche zeitliche Verteilung der Wanderungssaison von 1977 und von 1978 auch dadurch beeinflusst zu sein, dass 1977 starke Regenfälle im April für einen höheren Wasserstand und mehr Strömung sorgten, während 1978 ein trockenes Jahr mit niedrigem Wasserstand war. Einerseits mussten die Tiere mehr Energie aufwenden, um gegen die Strömung anzukommen. Andererseits fanden sie tatsächlich scheinbar besser den Weg, wenn mehr Wasser heranströmt, die stärkere Strömung und die mitherangetragenen Gerüche, die für jedes Gewässer typisch sind, wiesen ihnen anscheinend den Weg.  Aber der wichtigste Faktor bleibt die Temperatur. Malmqvist ermittelte eine Wassertemperatur von 7,5° Celsius, die nach dem Winter das Wanderungsverhalten auslöst. Die adulten Bachneunaugen machen sich dann auf ihren Weg in den mittleren Abschnitt des Bachs. Aus früheren Untersuchungen lagen schon zu Malmqvists Zeit Daten vor, dass das eigentliche Ablaichen bei etwa 10° Celsius oder knapp darüber erfolgt. Daraus ließe sich ableiten, dass die Tiere bei 7,5° Celsius zwar schon die Wanderung beginnen, dann aber bei Erreichen der Laichgründen nochmal leicht höhere Temperaturen abwarten. Da die Wanderung selbst ja auch Zeit kostet, ist es auch in der Tat üblicherweise so, dass die Wassertemperaturen bis dahin weiter gestiegen sind. Bachneunaugen sind also in ihrem Lebenszyklus sehr auf den jährlichen Verlauf der Wassertemperaturkurve in ihrem Heimatgewässer abgestimmt und angewiesen. Eine Überlegung an dieser Stelle, die Malmqvist damals noch nicht hatte: Wenn sich diese Temperaturen durch den menschenverursachten Klimawandel verändern (tendenziell nach oben) wird dies auch Auswirkungen auf das Wanderungs-und Laichverhalten der Bachneunaugen haben.

Ein anderer Aspekt, den Malmqvist untersuchte, waren die Umweltbedingungen, die für die Ammocoetes-Larven des Bachneunauges wichtig sind. Die Adultstadien leben nur wenige Monate, bevor sie die Wanderung antreten, ablaichen und sterben. Die Querder jedoch leben mehrere Jahre. Für sie sind zuträgliche Umweltbedingungen daher von besonderer Bedeutung. Malmqvist versuchte dies im Stampån genauer herauszubekommen. Dieser kleine Fluss ist deutlich länger als der Länsmannsbäcken und bietet damit mehr unterscheidbare Abschnitte mit unterschiedlichen Lebensräumen. Er fließt mit zahlreichen Schlenkern durch eine in weiten Teilen bewaldete Region, immer wieder unterbrochen von Ortschaften. Abschnittsweise sammelte Malmqvist hier Querder ein und zählte durch, in welchem lokalen Flusslebensraumtyp wie viele dieser Tiere zu finden waren. Solange der Untergrund es zuließ, dass sich die Querder eingraben konnten, kamen sie grundsätzlich vor, aber es gab Bereiche, in denen sie nur vereinzelt zu finden waren und andere Bereiche, in denen es sehr viele Bachneunaugenlarven gab. Aus dieser Verteilung versuchte Malmqvist abzuleiten, welche Umweltfaktoren für die Tiere bestimmend waren bei der Auswahl ihres Standortes. Dabei ergaben sich folgende Umstände als scheinbar optimal für die Querder: eine nicht zu starke Strömung (etwa im geschützten Bereich hinter Objekten wie großen Steinen), eine geringe Wassertiefe, ein sandiger Untergrund mit nicht zu vielen Körnern im Größenbereich zwischen 0,5 und 1 mm sowie ein geringer Anteil von Einzellern und Algen mit Chlorophyll α im Wasser. Andere mögliche Faktoren scheinen weniger wichtig zu sein, z.B. der Gesamtgehalt an organischen Rückständen im Wasser, der Schattenwurf durch Bäume oder das Vorkommen von Algen an sich. Zu viele Algen schienen sogar eher dem Wohlfühlfaktor von Querdern abträglich zu sein. Interessanterweise scheint die Menge an Nahrungspartikeln im Wasser praktisch keinen Einfluss auf die Standortauswahl zu haben. Rein von der Menge her sind üblicherweise mehr Nahrungspartikel vorhanden, als die Larven aus dem Wasser filtern können, weshalb es nicht einmal Nahrungskonkurrenz untereinander gibt. Wieviel dieses Nahrungsangebot wert ist, ermittelt sich dann eher über dessen Zusammensetzung und daraus folgende Nährwerte. Die Effizienz der Querder beim Filtrieren kann sehr stark schwanken. Prinzipiell erreichen größere Exemplare eine bessere Filtrationsrate. Aber selbst dies schwankt – und zwar aufgrund der Umgebungstemperatur. Die niedrigsten Filtrationsrate erreichen die Tiere bei Temperaturen von nur 5° Celsius. Die optimale Filtrationsrate erreichen die Larven unabhängig von ihrer Größe bei 15° bis 20° Celsius. Das entspricht milderen Wassertemperaturen im Bach oder Fluss im Frühsommer und wenn der Herbst beginnt. Die jungen, kleineren Larven filtrieren bei Temperaturen über 20° Celsius wieder mit geringerer Effizienz, ein Effekt, der bei größeren Exemplaren dann nicht mehr auftritt. Daraus lässt sich ableiten, dass Hitzewellen, die die Gewässertemperaturen zu stark in die Höhe treiben, gerade die jüngsten und kleinsten Querder beeinträchtigen könnte. Welche Wirkungen des Klimawandels auf die Bachneunaugen sich aus diesem Zusammenhang ableiten lassen, ist aber noch kaum erforscht – und Malmqvist hatte dies damals nicht so auf dem Schirm. Grundsätzlich bleibt auch hier festzuhalten: Es sind die Wassertemperaturen, die Entwicklung und Lebensrhythmus der Bachneunaugen massiv bestimmen.

Eine interessante Frage ist in diesem Zusammenhang natürlich, wann die Querder am stärksten wachsen. Ein Faktor ist dabei die oben beschriebene Temperatur für die höchste Filtrationsrate. Ein anderer Faktor ist aber natürlich auch die Zusammensetzung der Nahrung, die sich über den Jahresverlauf ändern kann. In der Tat stellte Malmqvist in weiteren Untersuchungen fest, dass die Querder im Stampån gegen Herbst am meisten zulegten, nach den höchsten Sommertemperaturen, aber bevor es winterlich kalt wird. Ein weiterer Wachstumsschub erfolgt im Frühsommer, wenn die Temperaturen ähnlich sind. Zugleich gehen beide Zeitabschnitte mit wichtigen Änderungen des Nahrungsangebotes einher: Im Frühsommer nimmt allgemein die biologische Aktivität im Gewässer zu, Algen und Mikroben vermehren sich. Im Herbst sorgen unter anderem die ins Wasser fallenden Blätter beim Laubabwurf der Bäume für einen weiteren Nährstoffschub. Die abgefallenen Blätter zersetzen sich im Wasser und geben Nährstoffe frei, die wiederum von Mikroben im Gewässer verwertet werden – und diese stellen dann eine hervorragende Nahrunsquelle für die Ammocoetes-Larven dar.

Die Querder müssen sich aber auch noch mit anderen Dingen herumschlagen. Sie sind ja schlechte Schwimmer. Dennoch verbringen sie nicht die gesamte Zeit in ihren Röhren im Bachgrund. Sie verlassen sie etwa bei Störungen, wenn die Röhren zu klein werden und eine neue gegraben werden muss, wenn ihnen die Standortbedingungen doch zu wenig zusagen usw. Als schlechter Schwimmer in einem stark strömenden Gewässer unterwegs zu sein bedeutet aber auch: Man ist den Launen der Strömung ausgesetzt. Die Querder werden stromabwärts abgetrieben! Auch das konnte Malmqvist durch eine Auswertung der gemessenen Längen von gefangenen Querdern entlang des Laufs des Stampån zeigen, die er in einen räumlichen und zeitlichen Kontext setzte. Je größer die Querder waren, umso mehr stromabwärts tauchten sie auf. Malmqvist konnte sogar zeigen, dass kurz nach der Laichzeit im nächsten stromabwärts ans Laichgebiet anliegenden Abschnitt des Stampån die Zahl der Querder wieder zunahm und die Durchschnittsgröße dabei dort kurzfristig sank. Eine direkte Folge von neu hinzugekommenen ganz jungen Querdern. Dieser Effekt war teilweise sogar auch weiter stromabwärts immer zwischen zwei Flussabschnitten festzustellen, schwächte sich aber ab. Wie stark der Effekt war und damit auch die Besiedlungsdichte eines Flussabschnitts mit Querdern, hing auch vom Laicherfolg einer Saison ab. Ein schwacher Jahrgang konnte sich zwei, drei Jahre später weiter stromabwärts in einem Abschnitt mit geringerer Querderpopulation niederschlagen, um ein Beispiel zu nennen. In den letzten Abschnitten des Unterlaufs erreichen die Querder schließlich nach einem Leben von mehreren Jahren ihre Reife und kommen zur Metamorphose. Diese beginnt tatsächlich in der Regel im Herbst und zieht sich über den Winter, so dass die Tiere im Frühjahr das ausgereifte Adultstadium erreicht haben.

Fig. 8

Fig. 8: Schematische Zeichnung des Neunaugen-Paarungsaktes. Das Männchen saugt sich vorne am Weibchen fest, das meist wiederum an einem Stein festgesaugt ist. Der Hinterleib des Männchens umschlingt sich in einem Knoten um das Weibchen. Angedeutet sind größere Steine und kleiner Kiesel und sandigerer Untergrund. Quelle: Eigene Zeichnung (Pirat), basierend auf verschiedenen Ursprungsabbildungen.

Orgie!

Wir haben jetzt sehr viel über die Lebensweise und Entwicklung der Querder und zur Metamorphose erfahren. Aber wie ist das eigentlich mit der Paarung selbst? Diese wurde mehrfach beschrieben und auch von Malmqvist hin Hinblick auf die Partnerwahl unter Bachneunaugen untersucht. Was soll man sagen: Das Paarungsverhalten der Bachneunaugen hat schwerwiegend was von einer Orgie.

Bachneunaugen laichen an geeigneten Stellen mit sandigem bis leicht kiesigen Untergrund und das meist in Pulks oder kleineren Schwärmen. Dabei treffen sie nur wenige Vorbereitungen. Die Weibchen schaffen oft mit heftigen Schwanzbewegungen kleine Mulden im Untergrund, die als eine Art „Nest“ dienen, das war es aber auch. Paarung und Ablaichen finden auch bei Tageslicht statt. Die Männchen stürzen sich dabei mehr oder weniger zielstrebig bis aggressiv auf die Weibchen. Sie saugen sich an diesen im Kopfbereich mit ihren Mundscheiben fest. Dann schlingen sie ihren Schwanz um den Hinterleib des Weibchens. Die Männchen bilden eine regelrechte Schleife mit Schwanz und Hinterleib um das Weibchen, die sie dann nach hinten gleiten lassen, wie um die Eier aus dem Weibchen herauszudrücken. Dann werden von beiden Geschlechtern unter heftigen zitternden Bewegungen Eier und Spermien freigesetzt. Der Paarungsakt dauert dabei nur Sekunden, die Befruchtung findet außerhalb des Körpers im Wasser statt. Wenn das Männchen ablässt, wechselt es meist zu einem weiteren Weibchen hinüber, während das Weibchen ebenfalls mit dem nächsten Männchen zur Paarung schreitet. Oft genug rangeln die Männchen um ein Weibchen und das kräftigste Tier setzt sich durch – eine Folge des Umstands, dass es meist mehr Männchen als Weibchen zu geben scheint. Einige Männchen verlegen sich auch darauf, vor allem wenn sie beim Rangeln um Weibchen nicht erfolgreich waren, dicht über ablaichenden Paaren Kreise zu ziehen und dann ebenfalls Sperma abzugeben, um vielleicht wenigstens ein paar Eier befruchtet zu kriegen. Auf der anderen Seite können bereits völlig von Eiern entleerte Weibchen weiter Paarungsbereitschaft zeigen und beteiligen sich weiter am Laichverhalten – möglicherweise eine Folge der dann im Wasser herumtreibenden Hormone aus dem Sperma und dem Laich der anderen Tiere, so dass sie wie in einer Art Rausch sind.

Die große Orgie mit der zum Teil aggressiv ausgetragenen Rivalität der Männchen um die Weibchen ist jedenfalls nicht ohne Grund. Es ist der ultimative Test dafür, welches Männchen am fittesten ist und damit hoffentlich auch die hochwertigsten Spermien hat. Sie müssen es beweisen, indem sie sich am besten beim Ablaichen durchsetzen. Da die Befruchtung der Eier aber im freien Wasser stattfindet, bleibt natürlich auch schwächeren Männchen, die dann einfach über den Pärchen herumschwimmen und ebenfalls Spermien abgeben können, eine Restchance. Die kräftigsten und durchsetzungsstärksten Männchen haben vielleicht den größten Fortpflanzungserfolg; zugleich bleibt aber gesichert, dass es eine große genetische Variation in der Nachfolgegeneration geben wird. Schließlich müssen auch die Nachkommen, die aus den befruchteten Eiern schlüpfen, kaum 2 cm lang, mehrere Jahre als Ammocoetes-Larve durchstehen, wachsen, die Metamorphose schaffen und dann die anstrengende Wanderung stromaufwärts zurück zu den Laichgründen bewältigen!

Blick nach Irland

Wie immer wieder durchschien, ist das Bachneunauge in seinem Lebenszyklus sehr stark von seiner Umgebung abhängig. Es sind also bei seiner großen Verbreitung in Europa Variationen zu erwarten. Daher lohnt ein Blick auch in andere Länder. Zum Beispiel nach Irland. Verschiedene Forscher haben dort im Laufe der Jahre immer wieder die Ökologie der verschiedenen Neunaugen untersucht, die auf und um die Insel leben. Darunter auch das Bachneunauge, dass in den vielen kleinen Bächen und Flüsschen, die die Insel durchziehen geeignete Lebensräume finden kann.

2001 veröffentlichten Fiona L. Kelly und James J. King vom Central Fisheries Board in Dublin eine Übersichtsstudie zu den drei in Irland bekannten Neunaugenarten und deren Ökologie. Darin finden sich einige interessante Angaben zur Fortpflanzungsökologie und dem Lebenszyklus des Bachneunauges, die die Befunde aus Schweden hervorragend ergänzen, zusammengetragen aus weiterer Literatur aus Mitteleuropa und Großbritannien und aus Untersuchungen in Irland. Daraus ergibt sich zum Beispiel ein gutes Bild, wie das Leben als Bachneunauge eigentlich beginnt. In Irland laichen die Bachneunaugen oft schon im März, spätestens im April, also rund einen Monat vor ihren Artgenossen in Südschweden. Auch hier hängt das Wanderungs-und Laichverhalten mit einem Anstieg der Temperaturen auf rund 10° Celsius zusammen, womit nicht nur Befunde von Malmqvist bestätigt werden, sondern auch ähnliche Messergebnisse aus England, die Hardisty schon in den 1950er und 1960er Jahren beisteuerte. Die Bachneunaugen wandern auch hier keine langen Strecken, oft nur weniger hundert Meter bis wenige Kilometer. Die Eier in den flachen Laichmulden im grobsandigen Untergrund der Bäche, meist nicht tiefer als 40 cm unter der Wasseroberfläche, reifen etwa zwei Wochen lang, bevor die Larven schlüpfen. Die Laichmulden haben Durchmesser von 15 bis 45 cm, bei Tiefen bis zu 10 cm (meistens weniger). Die Schlüpflinge sind zunächst noch nicht einmal voll ausgebildete Ammocoetes-Larven, sondern Vorstufen davon, die sich noch von einem Rest Dottervorrat ernähren und bis zu deren Verbrauch zwischen den Sedimentkörnern verbogen bleiben. Die ersten trauen sich nach einer Woche hervor, in den beiden Wochen darauf dann auch die anderen. Sie sind aber noch schlechte Schwimmer. Es folgt eine der kritischsten Phasen für die jungen Querder: Sie werden von der Strömung stromabwärts verdriftet. Manche brauchen Tage oder Wochen, bis sie eine Stelle finden, wo sie sich in den Untergrund eingraben können. Viele schaffen es gar nicht – sie werden zu weit abgetrieben bis in Bereiche, die ihnen keine Lebensbedingungen mehr bieten, oder sie werden von anderen Bewohnern des Flusses gefressen (etwa Forellen). Sobald die Querder Standorte zum Eingraben gefunden haben (wofür in britischen Gewässern als bevorzugtes Sediment Sande mit einer Korngröße von 1,8 bis 3,8 mm festgestellt wurden), haben sie relative Sicherheit erreicht: Jetzt heißt es fressen, nur gelegentlich den Standort wechseln und wachsen. Und zwar für die nächsten bis zu 8 oder 9 Jahre. In einigen Fällen (unter günstigen Bedingungen) entwickeln sich die Querder gelegentlich auch schneller, in nur 3 bis 5 Jahren, aber die längere Zeitspanne scheint häufiger vorzukommen, jedenfalls wird sie in der Literatur häufiger genannt. Aus älteren Untersuchungen weiß man, dass das Wachstum zu Beginn des Querder-Daseins und gegen dessen Ende am schnellsten ist, während es dazwischen in langsamerem Tempo voranschreitet. In dieser Phase bleiben die Verluste begrenzt. Erst wenn dann am Ende der Querder-Zeit die Metamorphose beginnt, in Irland ab Juli, werden die Tiere wieder verwundbarer. Die Metamorphose zieht sich bis in den Winter; wenn die Tiere in dieser Zeit den Standort wechseln, sind sie nicht so gewandte Schwimmer wie später die adulten Stadien. Auch hier kommt es wieder vermehrt zu Verlusten durch Jagddruck, Krankheit oder Abdriften in nicht zuträgliche Lebensräume stromabwärts.

Die meisten Untersuchungen bestätigten im Großen und Ganzen die Beobachtungen in Bezug auf zeitlichen Ablauf des Entwicklungszyklus des Bachneunauges und in Bezug auf die Lebensraumwahl der Querder. Ein Forscherteam aus Belfast wies 2008 in einer Arbeit ausdrücklich darauf hin, dass davon auszugehen ist, dass die Querder sehr aktiv ihren Standort auswählen können – ungeachtet der Tatsache, dass sie natürlich auch verdriftet werden. Eine dadurch entstehende Größensortierung entlang der Flussabschnitte, wie sie Malmqvist beobachtete, konnten sie aber nicht bestätigen. Dies könnte aber mit den konkreten Strömungsverhältnissen im betreffenden Bach-und Flusslauf zu tun haben. Was sich zumindest in Irland abzeichnet: Der pH-Wert der Gewässer scheint noch wichtig zu sein. Niedrige pH-Werte (also saures Wasser) scheinen den Ammocoetes-Larven nicht zu bekommen, jedenfalls sind sie erst bei pH-Werten knapp über 8 (leicht alkalisch) häufig zu finden. Allerdings darf man dabei das komplexe Zusammenspiel dieses Faktors mit anderen Faktoren (Temperaturen, Untergrund, Bewuchs etc.) nicht außer Acht lassen.

Es ist tatsächlich nicht immer alles so einfach. Das gilt nicht nur für die Details der Biologie des Bachneunauges, sondern auch für die Abgrenzung dieser Art zu anderen Arten. So lässt sich in einer Übersichtsstudie zu den irischen Neunaugenpopulationen von 2004 unter Verweis auf genetische Untersuchungen, die nur wenige Unterschiede zwischen Bachneunaugen und Flussneunaugen (Lampetra fluviatilis) feststellen konnten, folgendes lesen:

„Ob das Bach-und das Flussneunauge unterschiedliche Spezies sind oder nicht, ist eine offene Frage. (…) Es ist daher möglich, dass das Flussneunauge eine anadrome Form des Bachneunauges ist.“

Als anadrom bezeichnet man Fischarten, die als erwachsene Tiere im Meer leben und zum Laichen wieder ins Süßwasser zurückkehren. Oberflächlich betrachtet klingt das nach einem großen Unterschied zum Lebenszyklus des Bachneunauges. Wieso ist die Artunterscheidung hier überhaupt dann in Diskussion? Werfen wir einen genaueren Blick darauf.

Artabgrenzungen

Zwei naheverwandte Tierformen als unterschiedliche Arten zu unterscheiden und gegeneinander abzugrenzen ist gar nicht so einfach, wie man manchmal meint. Es gibt tatsächlich im Grunde kein Artkonzept, das wirklich auf jeden Fall in der Natur sinnvoll anwendbar ist. Meistens läuft die Artunterscheidung in der Praxis dann über einen von drei Wegen, die hier kurz skizziert seien, um sie bei der weiteren Betrachtung im Hinterkopf zu haben:

Morphologische Unterschiede. Die beiden Formen sind äußerlich und/oder im Körperbau so unterschiedlich, dass es offensichtlich scheint, sie voneinander zu unterscheiden. Im Grunde ist das also eine Frage der Optik. Das hat natürlich Tücken. Es gibt Arten mit einer großen morphologischen Variation aus unterschiedlichsten Gründen, man denke nur an unsere eigene Art, den Menschen. Oder eben auch an die Neunaugen, wo die verschiedenen Lebensstadien so unterschiedlich sind, dass man die Querder ursprünglich auch schon für eine eigene Art hielt. Aussehen ist diesbezüglich also nicht alles.

Molekulare Unterschiede. Hier sind vor allem genetische Unterschiede zu nennen, in der Zellkern-DNA wie in der mitochondrialen DNA, aber auch auf Proteinebene kann man Unterschiede finden. Also alles, was wirklich auf Molekülebene stattfindet. Erbgutuntersuchungen haben schon oft Unterschiede zwischen äußerlich fast nicht zu unterscheidenden Tieren ergeben. Hier ist die Problematik oft eher: Wie groß muss der genetische Unterschied denn sein, damit er eine Artabgrenzung begründet?

Biologische Begründung. Der berühmteste Artbegriff, der von den beiden vorigen Punkten losgelöster ist und möglicherweise die meisten Fälle in der Natur abdeckt, aber halt auch nicht alle, ist der biologische Artbegriff. Er besagt, dass zwei Tiere dann zu einer Art gehören, wenn sie (Pathologien mal ausgenommen) uneingeschränkt fruchtbare Nachkommen miteinander zeugen können. Sobald das nicht mehr gegeben ist, sind es unterschiedliche Arten. Dieser Ansatz hat immerhin den Vorteil, dass er mit biologischen Realitäten zu arbeiten versucht und weniger mit oberflächlich begründeten Schubladen. Nachteil ist: Nicht immer kommt man dazu, das faktisch zu testen. Und wie tiefgreifend muss die Unfähigkeit zur Zeugung fruchtbaren Nachwuchses sein? Gilt dieses Argument auch, wenn der eigentliche Grund dafür schlicht mangelnde Gelegenheit aufgrund geografischer Isolation ist? Und das ist nicht der einzige Fallstrick dabei (alle müssen wir an dieser Stelle nicht ausführen).

Mit diesem geistigen Rüstzeug schauen wir uns näher das Verhältnis zwischen Bachneunauge und Flussneunauge an. Beide galten traditionell als Schwesterarten, die sich erst in geologisch relativ junger Vergangenheit irgendwann während der Eiszeiten der letzten 3 Millionen Jahre voneinander trennten, als ihr gemeinsamer Vorfahre von den vorrückenden Gletschern nach Süden und in die Enge gedrängt wurde. Das Flussneunauge hätte demnach das Vordringen des Eises in Küstengewässern überstanden, das Bachneunauge in stark strömenden, zumindest nicht bis zum Grund zufrierenden Gewässern im Landesinnern und im Vorfeld der Gletscherkante. So ungefähr kann man sich das vorstellen. Als sich die Gletscher mehrfach zurückzogen und wieder vorstießen, kamen immer wieder neue Verbindungen zwischen verschiedenen Flusssystemen zustande, die heute getrennt sind, und darüber hätte das Bachneunauge diese dann besiedeln können – schließlich muss die heutige Verbreitung erklärt werden, wenn die nur in den Mittel-und Oberläufen lebenden Populationen ja eigentlich voneinander getrennt sind. Das Flussneunauge wiederum konnte über die wieder freiwerdenden Küstengewässer nach Norden wandern und von dort aus die verschiedenen Flusssysteme wieder besiedeln. Auch ökologisch ergab da einiges Sinn: Das Flussneunauge konnte weite Wanderungen und Nahrungsaufnahme in immer noch beutereichen Meeresbereichen beibehalten. Das Bachneunauge war während der Eiszeiten in räumlich wesentlich limitierteren Lebensräumen festgenagelt, lange Wanderungen waren eh nicht drin und das Nahrungsangebot für die Adultstadien in Form anderer Fische war so knapp, es überlebte schließlich nur die Version, die in diesem Stadium auf Fressen verzichtete. Soweit etwas stärker ausformuliert die traditionelle Sichtweise. Aber stimmt das auch?

Fig. 9

Fig. 9: Direkter Vergleich zwischen den Mundscheiben von (b) dem Flussneunauge (Lampetra fluviatilis) und (c) dem Bachneunauge (Lampetra planeri). Es gibt natürlich Unterschiede in der Ausprägung der einzelnen Hornzähne, aber die Anordnung ist nahezu identisch. Quelle: Igoe et al. 2004.

Wirklich zwei Arten?

Beguckt man sich Bach-und Flussneunaugen erstmal anhand der Adultstadien, so wird recht schnell offensichtlich, warum man sie traditionell als zwei Arten, wenn auch nahe verwandt, betrachtet. Es gibt ja Unterschiede. Flussneunaugen sind deutlich größer und ihre Hornzähne auf der Mundscheibe sind stärker ausgeprägt, sie brauchen sie ja auch mehr. Allerdings ist die Anordnung dieser Hornzähne ansonsten zwischen beiden Arten praktisch identisch. Die Rückenflossen des Flussneunauges bleiben zeitlebens deutlich getrennt voneinander, im Gegensatz zum Bachneunauge, bei dem sie im weiteren Entwicklungsverlauf eher zusammenrücken. Und natürlich: Das Flussneunauge hat auch adult noch einen voll ausgebildeten Verdauungstrakt, da es auch als erwachsenes Tier noch frisst.

Das Bild wird diffuser, wenn man sich den Larvenstadien zuwendet. Diese sind fast nicht voneinander zu unterscheiden und in Gewässern, in denen die Larvenstadien beider Arten nebeneinander vorkommen, werden sie oft genug einfach nur als Larven der Gattung Lampetra bezeichnet, nicht weiter unterschieden. Aber was heißt das schon? Immerhin sind beide Arten doch ökologisch sehr unterschiedlich – oder? Nun, so groß ist der Unterschied nicht. Sieht man davon ab, dass die Flussneunaugen als ausgewachsene Tiere fressen und die Bachneunaugen nicht, sind die Unterschiede nicht so groß. Ob man aus den Küstengewässern die Flüsse hochwandert oder innerhalb des Mittel-und Oberlaufs wandert ist eigentlich nur eine Frage der Entfernung. Die Laichgründe sind tatsächlich dann oft dieselben. Was einen zur nächsten Frage bringt: Gibt es Vermischungen zwischen beiden Arten? Trägt hier vielleicht der biologische Artbegriff nicht? Dieser Frage ging in den 2000er Jahren eine französische Forschergruppe um Emilien Lasne nach.

Der Reihe nach. Der biologische Artbegriff erfordert, dass zwei Arten sich nicht uneingeschränkt fruchtbar miteinander kreuzen können. Im Umkehrschluss bilden Individuen, bei denen das der Fall ist, eine Art. Das klingt banaler als es ist: Es gibt Arten, bei denen sich Bastarde bilden können, wenn man sie zusammenbringt, etwa in Gefangenschaft. Aber: ist das auch in der Natur so? Eine Fortpflanzungshürde können selbst Verhaltensweisen sein oder Lebensrhythmen, die eine Vermischung verhindern. Die Barriere muss nicht zwingend eine reine physiologische sein, wenn die Arten sich erst vor kurzer Zeit im Stammbaum getrennt haben. Die Formulierung „uneingeschränkt fruchtbar miteinander kreuzbar“ trägt schon dem Umstand Rechnung, dass sich manche verwandten Arten miteinander kreuzen lassen, aber nicht immer fruchtbare Nachkommen dabei herauskommen. Aber selbst das in Rechnung gestellt, gibt es in freier Wildbahn noch alle möglichen anderen Verhältnisse, die die saubere Definition der Wissenschaftler verwischen und schwierig machen. Das macht es dann so schwierig, auch hier.

Schon 1971 konnten Hardisty und Potter (die beiden bereits genannten Forscher arbeiteten auch zusammen) zeigen, dass man in Gefangenschaft mit einer künstlichen erzwungenen Kreuzung von Bach-und Flussneunauge lebensfähige Larven hervorbringen kann. Wobei an dieser Stelle offen bleibt, ob die daraus entstehenden Individuen voll fruchtbar waren. Und selbst wenn: Was ist mit den Tieren in der freien Wildbahn? Selbst wenn sie physiologisch in der Lage sein sollten, sich zu kreuzen, heißt das ja nicht, dass sie das auch tun. Andere Bearbeiter waren zum Schluss gekommen, dass der Größenunterschied zwischen Bach-und Flussneunaugen die Tiere an einer echten Paarung in freier Wildbahn hindert. Bachneunaugen sind deutlich kleiner, was es ihren Männchen schwerer machen würde, sich um ein Flussneunaugen-Weibchen zu schlingen. Und selbst wenn sie das schaffen würden, wären sie mit ihrer Genitalöffnung immer noch zu weit weg von der des Weibchens und würden es kaum schaffen, die Eier aus diesem herauszupressen. Umgekehrt könnten sich Flussneunaugen-Männchen auch nur schlecht um das kleinere Bachneunaugen-Weibchen schlingen, da dieses viel kürzer ist und sie vermutlich über den Schwanz abgleiten würden. Natürlich könnte bei der wilden Orgie der Neunaugen am selben Laichplatz, wenn Vertreter beider Arten gleichzeitig vor Ort aktiv sind, dennoch eine interspezifische Befruchtung, also eine Bastardisierung stattfinden. Nun muss man aber auch hier rein praktisch die Frage stellen: Kommt das häufig genug vor, um von Bedeutung zu sein?

Und an dieser Stelle setzten Lasne und seine Kollegen an. Sie beobachteten 2009 das Laichverhalten von Bachneunaugen und Flussneunaugen im kleinen Flüsschen Oir. Der Oir ist ein Zufluss der Sélune im Südwesten der Normandie, nur etwa 20 bis 25 km lang. Er besitzt mehrere noch kleinere Zuflüsse. Selber schlängelt sich der Oir durch eine Landschaft aus Feldern, durchsetzt mit kleinen Orten. Seine Ufer sind über weite Strecken von Bäumen bestanden, sein Grund sandig mit gelegentlichen kiesigen oder steinigen Abschnitten. Bebauung besteht aus gelegentlichen kleinen Brücken und Wassermühlen. Bis heute ist der Oir das Ziel-und Laichgewässer mehrerer wandernder Fischarten. In diesem Fluss beobachteten die französischen Forscher entlang eines etwa 1620 m langen Abschnitts im April 2009 insgesamt 13 Laichstellen für Neunaugen. Was dabei zuerst auffällt: Während zwar 6 dieser Stellen nur vom Flussneunauge genutzt wurden, gab es keine Laichstelle, die das Bachneunauge exklusiv nutzte. Die restlichen sieben Stellen wurden von beiden Arten zum Ablaichen benutzt. Dabei war das Bachneunauge fast immer in Unterzahl. Lediglich an einem Laichplatz war es leicht in der Überzahl – es wurden dort 5 Bachneunaugen und nur 4 Flussneunaugen beobachtet. Allerdings war die Beobachtung der genauen Verhaltensdetails gar nicht so einfach und so blieben Befunde unvollständig. Aber in einem waren sich die Forscher sicher: Sie haben beobachtet, wie es zumindest zu Paarungsversuchen zwischen beiden Arten kam. An einem Laichplatz beobachteten sie ein Bachneunaugen-Männchen, das versuchte sich mit einem Flussneunaugen-Weibchen zu paaren. Bei einer anderen Gelegenheit sahen sie ein Bachneunaugen-Männchen, das sich mit zwei Flussneunaugen-Männchen darum schlug, wer es mit einem Flussneunaugen-Weibchen versuchen darf. Diese Beobachtungen legen zumindest nahe, dass es an gemeinsamen Laichplätzen zu wechselseitigen Paarungsversuchen kommt. Aber was folgt daraus? Sind solche Versuche erfolgreich? Sind die daraus entstehenden Nachkommen fruchtbar? Darauf gab dann auch die Studie des französischen Teams keine Antwort.

Und was folgt überhaupt daraus? Wenn Flussneunaugen und Bachneunaugen tatsächlich keine reproduktive Isolation voneinander besäßen, also den biologischen Artbegriff nicht erfüllen, dann wären sie trotz aller Unterschiede faktisch eine Art. Dann wären beide innerhalb ihrer Art lediglich verschiedene Ökotypen, die verschiedene Ansprüche an ihren Lebensraum besitzen und diesen unterschiedlich nutzen. Ein solches Phänomen verschiedener Ökotypen, die es einer Art ermöglichen unterschiedliche, aber zusammenhängende Lebensräume optimal zu nutzen, kennt man nicht oft, aber durchaus von verschiedenen Pflanzen-und Tierarten. Im Tierreich sind Fälle bei verschiedenen Delfinen die prominentesten Beispiele. Aber wie will man das beim Bachneunauge aufdröseln? Es hilft am Ende wohl doch nur die Genetik.  

Ein Team portugiesischer Forscher rund um Ana M. Pereira von der Unidade de Investigação em Eco-Etologia nahm die portugiesische Population des Bachneunauges unter die Lupe, indem es einen ausgewählten Abschnitt mitochondrialer DNA analysierte, nach sogenannten Haplotypen (ein Haplotyp ist eine bestimmte, definierte Variante eines Genabschnitts oder Chromosoms) sortierte und daraus eine Art genetischen Stammbaum generierte. Als Vergleichswerte wurden auch Proben von Bachneunaugen aus dem französischen Fluss Garonne und von Flussneunaugen aus Nordeuropa hinzugenommen. Insgesamt waren DNA-Proben aus den Mitochondrien von 267 Neunaugen Teil der Analyse. Die Ergebnisse waren bemerkenswert und machten vor allem nichts einfacher.

Die Bachneunaugen Portugals sind ja schon deshalb etwas kurios, weil sie ganz isoliert von allen anderen Populationen dieser Art vorkommen. Nun stellte sich aber heraus, dass tatsächlich die jeweiligen Teilbestände in verschiedenen portugiesischen Flussläufen selbst nochmal weitestgehend isoliert sind. Verschiedene Haplotypen kommen jeweils nur in den Bachneunaugen aus einem bestimmten Flusssystem vor. Es ist fast, als wären es eigene kleine Unterarten oder Arten oder wie immer man diese Populationseinheiten bezeichnen mag. Aufgrund dieser genetischen Variationen, die sie unterscheiden, müssten sie jedenfalls bei Artenschutzkonzepten als jeweils eigene zu schützende Einheiten betrachtet werden. Wenn man das aber mal recht betrachtet, war ein solches Ergebnis in gewisser Weise zu erwarten: Bachneunaugen leben ja üblicherweise nur in ihrem jeweiligen Flusslauf. Als Larven wandern sie ein paar Kilometer stromabwärts, zum Laichen wieder zurück. Aber sie verlassen den Flusslauf üblicherweise nie. Das wirft ohnehin die Frage auf, wie die Art sich dann überhaupt über weite Teile Europas – von einem Flusssystem zum nächsten – verbreitet haben soll. Jedenfalls war das nicht der größte Knackpunkt. Viel gravierender war der Umstand, dass die verschiedenen Haplotypen der Bachneunaugen, die eine große genetische Vielfalt darstellten, genetisch direkt von Haplotypen unter den Flussneunaugen abzustammen scheinen, wobei diese genetisch weniger variabel sind. Wäre dieser Ursprung der Bachneunaugen-Haplotypen einmalig, wäre das ja noch irgendwie unspektakulär, aber Tatsache ist: Die verschiedenen Haplotypen entsprangen zu verschiedenen Zeiten an unterschiedlichen Punkten im genetischen Stamm aus dem Pool der Flussneunaugen! Zugegeben, es geht hier nur um mitochondriale DNA. Aber: es ist ein starker Hinweis darauf, dass das Bachneunauge als Art nicht monophyletisch ist, sondern polyphyletisch, also viele Ursprünge hat. Und damit eigentlich nicht valide ist. Und sicher legt es nahe, dass es nicht nur einen Ursprung bei den Flussneunaugen gibt, sondern vielleicht sogar immer noch genetischen Austausch.

Diese Ergebnisse wurden 2010 publiziert. Schon 2007 und  2011 erschienen die Ergebnisse einer ähnlichen Untersuchung eines weiteren portugiesischen Forscherteams, welches eine größere Datenbasis über ganz Europa hinweg anstrebte. Dieses Mal wurden mehr Genmarker der mitochondrialen DNA einbezogen und die Stammbaumanalyse auf Basis der Haplotypen wurde vertieft. Die zuvor berichteten Ergebnisse wurden bestätigt und durch Ergänzungen wurde das Bild klarer. Gerade in den portugiesischen Flüssen zeigen die Bachneunaugen eine große genetische Variation, sie besitzen stark verschiedene Haplotypen. Diese wurden von den Forschern drei verschiedenen Entwicklungslinien, sogenannten Kladen, zugeordnet (den Kladen I bis III). Diese Kladen sind möglicherweise so isoliert voneinander, dass sie sogenannte „Kryptospezies“ darstellen: Tatsächlich eigenständige Spezies, die aber äußerlich nicht unterscheidbar sind, nur genetisch (und – mutmaßlich, was zu beweisen wäre – reproduktiv voneinander isoliert sind). Dies hätte eine große Auswirkung darauf, wie man vom Schutzaspekt mit ihnen umgehen müsste. Wären es wirklich eigenständige Spezies, die jeweils nur auf einen bestimmten Fluss beschränkt sind, wären sie ganz anders in ihrem Fortbestand bedroht als wenn sie nur eine Teilpopulation einer weit verbreiteten Spezies wären. Jedenfalls gibt es noch einen vierten Haplotypen, Klade IV, die sich scheinbar im Rest Europas nachweisen lässt und nicht nur auf ein Flusssystem beschränkt.

Nun könnte man natürlich argumentieren, dass man dann die Kladen I bis III in Portugal jeweils als eigene Art beschreiben könnte und die restlichen Bachneunaugenpopulationen Europas als ursprüngliche Art weiterführt. Da bleibt nur noch ein Problem: Alle drei Kladen stammen zu unterschiedlichen Zeiten vom Flussneunauge ab. Der Haplotyp von Klade IV ist sogar nicht auf das Bachneunauge beschränkt, sondern ebenfalls der Haplotyp der Flussneunaugen. Genetisch sind die zwei Arten zumindest über die benutzten mitochondrialen Marker nicht zu unterscheiden!

Wie mit diesen Befunden umgehen, wie sie einordnen? Offensichtlich ist jedenfalls, dass das Bachneunauge, so wie es bisher verstanden wurde, keine valide Art ist. Eine taxonomische Revision der gesamten europäischen Arten der Gattung Lampetra wäre vermutlich angebracht. Jemand müsste austarieren, wo man von genügend Abgrenzung ausgehen kann und wo noch so viel Austausch zwischen den Populationen besteht, dass sie eine Art darstellen. Folgende Szenarien wären mögliche Ergebnisse einer solchen Revision:

1. Alle Kladen der bisher als Bachneunauge verstandenen Populationen werden als Ökotypen des Flussneunauges aufgefasst. Da dieses zuerst beschrieben wurde, hätte sein wissenschaftlicher Name Priorität.

2. Die lokalen Kladen des Bachneunauges in Portugal werden als eigene Arten beschrieben, Klade IV jedoch dem Flussneunauge zugeschlagen. Auch in diesem Falle hätte der wissenschaftliche Name vom Flussneunauge für Klade IV Priorität.

3. Die womöglich konservativste Lösung: Man akzeptiert, dass auch Klade IV zwar noch sehr eng mit Flussneunaugen-Populationen verwandt ist, was auf die noch nicht lange zurückliegende Trennung von diesen zurückzuführen ist, ignoriert das Potential auf gelegentliche Vermischung und betrachtet die ganze Klade als noch sehr junge Art. Man beschränkt den Artbegriff des Bachneunauges genau auf diese Klade und erhält damit den Artstatus für Lampetra planeri. Die Populationen in Portugal werden als eigenständige Art oder Arten beschrieben.

Was sicher vom Tisch ist: Dass das Bachneunauge nach traditionellem Verständnis eine echte Art mit nur einem Ursprung ist. Davon abgesehen müssen sich die beiden Möglichkeiten – mehrere verschiedene Arten, die sich vom Flussneunauge zu unterschiedlichen Zeiten abgespalten haben, auf der einen Seite oder Ökotypen des Flussneunauges auf der anderen Seite – nicht völlig ausschließen. Denn natürlich kann die Ausbildung unterschiedlicher Ökotypen innerhalb einer bestehenden Art Teil evolutionärer Prozesse sein, die zur Ausbildung einer neuen Art führen. Eine zunehmende Isolation des einen Ökotyps von seinen Artgenossen eines anderen Ökotyps wäre dann letztlich eine Variante der Artbildung. Vielleicht sind die verschiedenen Bachneunaugen genau solche Arten „in statu nascendi“. Der Beginn dieser Entwicklung lässt sich auf jeden Fall mindestens bis zur letzten Eiszeit zurückverfolgen, als die riesigen Eisschilde über Nord-und Mitteleuropa die Neunaugen in verschiedene zeitweise isolierte Refugien in den eisfrei bleibenden Flusssystem und südlichen Küstengewässern zurückdrängten. Die molekularen Daten deuten darauf hin, dass dieses Ereignis für das Bachneunauge etwa 2000 Generationen her ist – bedenkt man, dass die Tiere inklusive ihres Querder-Stadiums locker 5 bis 10 Jahre leben, bedeutet das etwa 10000 bis 20000 Jahre. Was genau den letzten Eisvorstößen nach Europa hinein entspricht.

Fig. 10

Fig. 10: Schematische Darstellung der drei Möglichkeiten, wie das Verwandtschaftsverhältnis zwischen Bach-und Flussneunauge verstanden werden kann. Die schwarzen Punkte markieren, an welcher Stelle das Wanderungsverhalten vom Meer in den Oberlauf der Flüsse verlorenging zugunsten kürzerer Wanderungen innerhalb der Flüsse. A repräsentiert die traditionelle Sicht, dass sich die beiden Arten einmal aus einem gemeinsamen Vorfahren aufgespalten haben. B repräsentiert die Theorie, dass die verschiedenen Bachneunaugen-Populationen mehrfach unabhängig voneinander aus Flussneunaugen-Beständen hervorgegangen sind. C stellt die Theorie dar, dass im Grunde beide Formen zu einer Art gehören, nur jeweils unterschiedliche Ökotypen darstellen. Jüngste genetische Untersuchungen haben zumindest Theorie A ausgeschlossen. Die beiden Theorien B und C schließen sich unter Umständen nicht aus, sondern ergänzen sich eventuell sogar. Quelle: Espanhol et al. 2007.

Mensch und Bachneunauge

Wie bereits angedeutet, hätte das genaue Verständnis des Artstatus des Bachneunauges Auswirkungen auf die Bewertung seines Schutzstatus. Wären die portugiesischen Populationen eigene Arten mit nur sehr kleinem Verbreitungsgebiet wären sie schutzbedürftiger, weil stärker von potentieller Auslöschung als Art gefährdet. Wären sie „nur“ Teil eines größeren Ganzen, wäre ihr Verlust aus Sicht des Artenschutzes verkraftbarer, auch wenn man natürlich ein Interesse daran hätte, eine größere genetische Variation innerhalb einer Art zu gewährleisten. Gleiches gilt jeweils in schwächerem Maße für die weiter verbreitete Klade IV; diese ist tatsächlich wahrscheinlich so weit verbreitet in Nordwest-, Mittel-und Nordosteuropa, dass sie insgesamt nicht als gefährdet zu betrachten ist. Folgerichtig listet auch die Rote Liste der IUCN das Bachneunauge derzeit nicht als gefährdet oder bedroht. Lokal oder regional kann das aber natürlich wieder etwas anderes sein. Womit wir beim Zusammenleben zwischen Menschen und Bachneunauge sind.

Den Lebensraum des Bachneunauges muss man sich noch mal vor Augen halten. Kleine Bäche und Flüsse, die sich durch Mittelgebirge und die Ebenen des Kontinents ziehen. Diese Gewässer sind keine isolierten Lebensräume, sondern eng verzahnt mit den Nutzflächen des Menschen und teilweise selbst von diesem genutzt. Durch ihre Fließgeschwindigkeit sind sie in der Vergangenheit oft dazu genutzt worden, Wassermühlen zu bauen. Für viele kleine Siedlungen sind sie faktisch die Abwasserroute. Außerdem sind die umgebenden Flächen oft intensiv landwirtschaftlich genutzt, mit allen Schadstoffeinträgen, die dazugehören. Außerdem hat der Mensch vielerorts versucht diese Gewässer unter die eigene Kontrolle zu bringen – durch Wasserwehre, Uferbefestigungen, Begradigungen. All dies beeinflusst die Wasserqualität und zerstört häufig die feinsedimentären Untergründe, die die Ammocoetes-Larven brauchen. Wasserwehre können auch gelegentlich die kurzen Wanderrouten zu den weiter stromaufwärts gelegenen Laichgründen versperren. Dadurch kommt es, dass das Bachneunauge regional durchaus gefährdet oder bedroht sein kann. Die Art ist daher in die FFH-Richtlinie (FFH=Fauna-Flora-Habitat) der EU aufgenommen worden und dadurch rechtlich geschützt.

Einige Beispiele können das verdeutlichen. In Niedersachsen zum Beispiel steht das Bachneunauge auf der Vorwarnliste der Roten Liste. In Baden-Württemberg gilt es als gefährdet. Für das gesamte Bundesgebiet jedoch wird es schlicht als ungefährdet geführt. Innerhalb eines sogenannten FFH-Gebietes – das sind ausgewiesene Schutzgebiete nach der genannten EU-Richtlinie – müssen dennoch Schutz-und Fördermaßnahmen für diese Art geprüft werden. Das führt auch dazu, dass bei Bauvorhaben in der Nachbarschaft eines FFH-Gebietes eine Prüfung vorgenommen werden muss, inwieweit das Bauvorhaben FFH-verträglich ist. Dazu gehört dann auch eine Bewertung, ob das lokale Vorkommen von Bachneunaugen beeinträchtigt werden könnte und was dagegen zu tun ist. Dabei geht es zum einen um Sedimenteinträge, die Laich-und Querdergründe zerstören könnten, aber auch um Schadstoffeinträge, die den für die Spezies unbedingt nötigen hohen Sauerstoffgehalt zerstören könnten. Darauf reagieren Bachneunaugen tatsächlich sehr empfindlichen. In den 1980er Jahren war die Art in der Tschechoslowakei zum Beispiel beinahe ausgestorben aufgrund von Gewässerverschmutzung. Dies war in vielen Teilen Europas damals ein massives Problem für die Art und der Grund, warum sie damals auch auf der Roten Liste der IUCN noch als potentiell gefährdet geführt wurde. Seit damals haben Umweltschutzmaßnahmen auf nationaler und auf EU-Ebene zu einer deutlichen Verbesserung der Gewässerqualität geführt. In der Folge haben sich viele Bestände der Bachneunaugen erholt, dadurch die derzeit optimistische Bewertung für die Art als Ganzes. Übrigens sind die Tiere so sensitiv auf die Wasserqualität – neben Sauerstoffgehalt auch in Bezug darauf, ob das Wasser zu sauer ist -, dass das Bachneunauge schon als eine Art Bioindikator für die Einschätzung der Qualität eines Gewässers diskutiert wurde.

Ob die Zukunft der Art gesichert ist, egal wie man sie nun abgrenzt oder ob man sie als Ökotyp des Flussneunauges sieht, ist natürlich mit vielen Fragezeichen behaftet. Jede Baumaßnahme an einem mittleren oder oberen Flusslauf kann wieder eine lokale Population unter Druck setzen. Durch Unfälle oder intensive Landwirtschaft kann es immer noch zu schädlichen Einleitungen in ein Gewässer kommen, die die Bachneunaugen sterben lassen. Und ein Problem hängt natürlich wie ein Damokles-Schwert über allen Populationen dieser Tiere: Der vom Menschen verursachte Klimawandel. Wir haben gesehen wie stark das Bachneunauge in seinem Lebensrhythmus und seiner Ökologie auch von der Umgebungstemperatur beeinflusst ist, ja abhängig. Der Temperaturanstieg durch den Klimawandel betrifft auch die Gewässer. Dabei muss man sich bewusst machen, dass Teile des Verbreitungsgebietes des Bachneunauges überdurchschnittlich von dieser Temperaturerhöhung betroffen sind. Zum Beispiel lässt sich für Teile Deutschlands schon jetzt ein Anstieg um fast 1,5° Celsius feststellen, größer als im globalen Durchschnitt. Die Auswirkungen auf die Gewässertemperaturen im Jahresverlauf lassen sich langfristig kaum abschätzen. Und noch weniger die Wirkung auf das Bachneunauge. Streckenweise könnte es bei zu hohen Temperaturen tatsächlich zugrunde gehen. Andernorts wird es vielleicht nur seine Laichzeiten verschieben. Vielleicht verschieben sich auch die besiedelten Gewässerabschnitte, z.B. noch weiter nach stromaufwärts, wo die Wassertemperaturen am kühlsten sind. Auf jeden Fall dürften dauerhaft höhere Umgebungstemperaturen, womöglich mit schweren Hitzewellen über 40° Celsius über Wochen hinweg im Sommer, kombiniert mit Dürreperioden den Vorkommen der Bachneunaugen in ganz Europa arg zusetzen. Das mag jetzt wenig bedrohlich wirken, aber erinnern wir uns: Die Art ist durchaus ein Indikator für die Qualität eines Lebensraumes. Solch massive Effekte auf das Bachneunauge bedeuten auch ähnlich massive Effekte auf die gesamte Flora und Fauna in unseren europäischen Gewässern. Was wiederum einen kritischen Zustand dieser Gewässer signalisieren würde, dessen Auswirkungen auf Wohlbefinden und auch Wohlstand der Anrainer nur schwer abschätzbar sind. Damit endet auch dieser Beitrag mit einem warnenden Abschluss.

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